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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
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wieder zurück zu den Spielsachen, die ich ihnen das letzte Mal mitgebracht habe. Unter anderem eine grosse Kiste Duplos, mit denen die grösseren Kinder, also Yusuf und sein Freund Bouba, schon am zweiten Tag keine Häuser mehr bauten, sondern Gewehre. Bouba lebt nicht hier, sondern bei seiner Mutter Assita, die im Juni letzten Jahres im sechsten Monat schwanger war. Dies, obwohl Lotti ihr gesagt hatte, sie dürfe unter keinen Umständen wieder schwanger werden, da eine Schwangerschaft für eine HIV-positive Frau das Todesurteil bedeuten könne. Assita hatte nicht hingehört. Das Baby, ein Mädchen, kam einen Monat zu früh zur Welt. Bouba, der nicht nur seinen Vater, sondern auch alle seine vier Brüder an Aids verlor, hatte zum ersten Mal eine Schwester. Sie lebte drei Wochen. Die kleine Talat starb in Lottis Armen, weil Assita zu diesem Zeitpunkt so schwach und krank war, dass sie das Kind nicht halten konnte. Das Mail, in welchem Lotti mir den Tod der Kleinen mitteilte, endete mit den Worten: «Tote Babys wiegen Tonnen.»
    Lotti fragt, ob ich mit ihr durch die Krankenzimmer gehen wolle, damit sie mich den Patienten vorstellen könne, und interpretiert mein Zögern richtig.
    «Du willst noch nicht an all den Betten vorbei, in denen Aïcha, Noëlle, Maryam, Chantal und Lea lagen?», und meint: «Komm, dann gehen wir zuerst zu den neuen Betten im Hof.»
    Weil das Spital aus allen Nähten zu platzen drohte, weil die zweiundzwanzig Betten für die fünfzig Kranken beim besten Willen nicht mehr reichten, entschied sich Lotti, ein Freiluftzimmer mit nochmals zehn Schlafstätten zu errichten. So kam Alphonse zu seinem Bett, das er gar nie wollte, und manche der Patienten, die bis anhin auf einer Matratze auf dem Boden schliefen, zu einer Bettstatt samt Nachttisch.
    Lotti stellt mir alle vor. Ich erkenne, dass hier nicht die sterbenskranken Patienten untergebracht sind, was gut ist, weil sich die Kinder hier aufhalten. Eine Ausnahme allerdings gibt es. Die letzte Patientin, an deren Bett mich Lotti führt, liegt teilnahmslos da. Alimata. Ein Mädchen, dessen Alter schwer zu schätzen ist. Von ihrer Körpergrösse her müsste sie sechzehn sein, von ihrem Körpergewicht zehn Jahre jünger. Die Ernsthaftigkeit, die in ihren Augen liegt, lässt sie uralt erscheinen, die faltenlose Stirn verrät ihre Jugend. Alimatas starrer Blick hält mich auf Distanz. Wir geben uns die Hand, ich komme kaum näher als bis auf Armeslänge. Dass Alimata bei der Begrüssung nicht lächelt, beschäftigt mich erst, als ich auch in den folgenden Tagen nie auch nur das leiseste Zucken um ihren Mund erkennen kann. Sie liegt gleich neben Alphonse, der uns durch sein Moskitonetz hindurch aufmerksam beobachtet. Keine Frage, Alphonse hat zwar das Sofa gegen das Bett tauschen müssen, aber die totale Kontrolle über sein Königreich, die liess er sich nicht nehmen. Auf meine entsprechende Bemerkung lächelt Lotti weise und meint: «Du triffst damit ins Schwarze. Manchmal versucht er sich auch darin, ein wenig zu regieren und die Pfleger rumzuhetzen, aber…», auf Lottis Wangen zeichnen sich zwei tiefe Grübchen ab, und ich weiss, dass sie weiss, dass es nicht nötig ist, weiterzusprechen. Lotti lässt ihn liebend gerne König sein, solange er es nicht übertreibt.
    Bevor wir nun in die Krankenzimmer gehen, kommt eine Frau zur Tür herein, die auf ihrem Rücken ein Baby trägt, das sie von oben bis unten in Tücher gewickelt hat. Die Mutter erzählt Lotti, dass es ihrem Kind seit vier Tagen schlechter und schlechter gehe. Es brauche Hilfe, sie habe aber kein Geld. Lotti erklärt, dass hier alles gratis sei und sie sich wünschte, sie wäre schon früher gekommen. Weil es nirgendwo eine freie Matratze gibt, bittet Lotti sie in ihr Büro, wo ein Bett steht. Mit flinken Handgriffen holt die junge Mutter, sie heisst Elisabeth, das Baby von ihrem Rücken herunter, legt es aufs Bett, sagt, es sei ein Mädchen und etwas mehr als ein Jahr alt. Die angespannten Armmuskeln der jungen Frau lassen das enorme Gewicht von Deborahs Kopf erahnen, der mich, als er aus den Tüchern auftaucht, erschaudern lässt. Der Name dafür ist ebenso grässlich wie die Krankheit selbst: Wasserkopf. Die Medizin hat einen anderen Namen dafür: «Hydrozephalus». Ursache ist eine Fehlbildung, die schon bei der Geburt besteht, allerdings erst mit der Zeit sichtbar wird. Dann, wenn die vom Hirn gebildete Flüssigkeit nicht normal abfliessen kann, sich staut und der Kopf dadurch immer

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