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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
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darüber nicht existent. Monsieur Konaté streicht mit beiden Händen über den völlig verkrampften Unterkiefer seines Sohnes. Von hinten nach vorn. Wieder und wieder. Immer wieder. In der Hoffnung, die Härte weich streichen zu können, legt er dabei die ganze Kraft in seine Hände. Unterbricht kurz, als das Valium injiziert wird. Macht dann weiter, bis das Medikament den unter Hochspannung stehenden Körper Entspannung finden lässt. Nun geht Lotti in die kleine Apotheke des Sterbespitals, um das Arzneimittelkompendium zu holen, jenes immens dicke Buch, das alle handelsüblichen Medikamente beschreibt, und findet ihren Verdacht bestätigt. Das neue Mittel gegen Erbrechen, das Mamadou verschrieben bekam, enthält, wenn auch weniger, aber eben doch denselben Wirkstoff, auf den er schon einmal allergisch reagierte. Lotti bittet Monsieur Konaté, sich mit ihr auf die Bank neben ihrem Büro zu setzen, klärt ihn über diesen Sachverhalt auf. Immer wieder staune ich über all das medizinische Wissen, das Lotti sich im Verlauf ihrer Arbeit angeeignet hat. Lotti legt tröstend die Hand auf seinen Arm und sagt: «Lassen Sie ihn zwei, drei Tage hier, bis er sich erholt hat. Wenn Sie wollen, frage ich Monsieur Koné, ob er heute Nacht Dienst tun will.»
    Aber er winkt ab: «Nein, nein, ich werde heute Abend arbeiten.»
    Steht auf, geht zu seinem Sohn, setzt sich neben ihn aufs Bett und beweist, dass Kinder für Eltern immer Kinder bleiben, egal, ob sie zwei Monate oder zwanzig Jahre alt sind.
    Lotti geht zurück zu Deborah. Elisabeth, die nach wie vor mit den Händen im Schoss dasitzt, fragt, ob sie nach Hause gehen dürfe, sie habe sich in den letzten Tagen, als es mit Deborah immer schlimmer geworden sei, kein einziges Mal waschen können, und möchte dies jetzt, wo die Kleine hier so gut aufgehoben sei, nachholen. «Vielleicht könnte mich meine Schwester, die draussen wartet, ersetzen?»
    Lotti bietet der Mutter an, hier zu duschen, aber sie will weg, braucht ganz offensichtlich Distanz und etwas Zeit für sich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich, weil Deborah meinen Blick auf sich zog, keinen für Elisabeth hatte. Das liegt wohl auch daran, dass sie, als die Krankheit ihres Kindes so offensichtlich wurde, damit begann, für die Umwelt möglichst unsichtbar zu werden. Als Elisabeths Schwester reinkommt, wird sofort klar, dass die Positionen klar verteilt sind. Die Ältere duldet die Jüngere mit ihrem behinderten Baby in ihrer Hütte, mehr nicht. Aber wenigstens das. In einem zwei auf zwei Meter grossen Raum Platz für Mutter und Kind zu schaffen und damit nicht nur auf privaten Raum zu verzichten, sondern sich genötigt zu sehen, auch gleich noch zwei Münder mehr zu stopfen, ist ein Stress, den wir uns schlichtweg nicht vorstellen können.
    Kaum ist Deborahs Mutter weg, sinkt Elisabeths Schwester in sich zusammen, weint. Lotti lässt ihr Zeit, fragt dann, warum sie so traurig sei.
    «Ich weine nicht, weil die Kleine stirbt, sondern weil ich nie ein gutes Wort für sie hatte, weil ich mir, wenn sie schrie und schrie, eigentlich immer nur gewünscht habe, sie möge endlich Ruhe geben. Aus meinem Leben verschwinden. Endgültig. Und nun, wo sie so ruhig daliegt, fühle ich mich schuldig, und es tut mir so wahnsinnig Leid.»
    «Sag es ihr.»
    Deborahs Tante schaut Lotti so entsetzt an, als habe nicht sie, sondern ein Geist gesprochen. «Wie bitte?»
    Lotti spricht ganz leise. «Sag es nicht mir, sag es Deborah, dass es dir Leid tut. Sie wird dich hören und sie wird dich verstehen.»
    Jetzt nimmt Lotti Deborah wieder in die Arme, wiegt sie hin und her, vor und zurück, sagt: «Deborah, deine Tante ist hier, ist gekommen, weil sie dir etwas sagen möchte, das sie bis anhin noch nie hat sagen können, ich habe ihr versprochen, dass du sie hören wirst.»
    Die Stille, die auf diesen Satz folgt, ist für einen Moment lang vollkommen. Die Einheit, die Lotti, Deborah und die Tante bilden, auch. Und weil ich spüre, dass meine Anwesenheit Elisabeths Schwester daran hindert, die Möglichkeit, sich zu entschuldigen, wahrzunehmen, gehe ich leise hinaus. Kurz bevor ich die Tür hinter mir zuziehe, höre ich, wie die Tante zu der kleinen Deborah redet. Ich bleibe stehen. Nicht, weil ich lauschen will, sondern weil die Spannung, die in der Luft liegt, mir einen Wimpernschlag lang Göttlichkeit offenbart. Mein Körper reagiert darauf, als hätte eine angenehm kalte Dusche die klebrig feuchte Hitze auf meiner Haut weggespült. Vom

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