Madame Lotti
halten, eine gut sechstausend Mann starke Friedenstruppe zur Seite zu stellen. Den Zeitungsberichten zufolge allerdings mit nur geringem Erfolg.
Wieder zurück im Sterbespital, drücke ich viele Hände, gehe dann zu Alphonse, der nicht mehr auf dem Sofa thront, sondern gleich daneben auf einem der neu aufgestellten Betten.
«Alphonse, du liegst jetzt in einem Bett? Schön, nun kannst du endlich deine langen Beine strecken.»
Aber davon will Alphonse nichts wissen, offensichtlich hat er Lotti noch nicht ganz verziehen, dass sie ihn vom Sofa in ein Bett verfrachtete. Aber zufrieden, dass er – auch wenn es ihm inzwischen besser geht – immer noch hier bleiben darf, scheint er doch zu sein. Er zeigt mir sein neues Transistorradio, das er geschenkt bekommen hat und mit dem er zeitweise das halbe Spital unterhält. Vornehmlich zur Siestazeit, was nicht allen gleich gut gefällt.
Erst jetzt gehe ich ins Männerzimmer, um Felix, den blinden Nigerianer, zu begrüssen. Ich trete leise ein und höre schlagartig zu atmen auf. In der Luft liegt der Geruch einer eiternden Wunde. Ich atme ganz flach durch den Mund. Langsam passiere ich die Betten, vier auf jeder Seite, nicke den Kranken zu, sage hier und da «Bonjour». Ich erkenne kein einziges Gesicht. Zielstrebig gehe ich auf das hinterste, auf Felix’ Bett zu, in welchem ein junger, kräftiger Mann liegt, dessen dicker Verband an seinem Unterschenkel gelb und rosa genässt ist. Rechtsumkehrt und raus. Frische Luft atmen. Die Bilder von den ausgezehrten Körpern verdauen. Ich habe nicht vergessen, wie Patienten, die an Aids sterben, aussehen. Aber sich daran zu erinnern, wie dünn die Haut auf den Knochen liegt, ist etwas anderes, als in die tief in den Höhlen liegenden Augen der Kranken zu schauen. Hinzu kommt, dass Felix’ Bett «leer» ist. Wo steckt der blinde Nigerianer? Gestorben? Lotti hätte mir das erzählt, gemailt, was auch immer. Und nach Hause gegangen wird er wohl auch nicht sein. Ich weiss, dass Lotti ihn nur bei sich behält, weil er sonst auf der Strasse leben müsste und – blind, wie er ist – wohl bald verhungern würde. Felix ist der einzige Patient, der nicht an Aids leidet und hier seinen Alterssitz gefunden hat.
«Suchst du Felix?»
Lotti, die ganz offensichtlich nach wie vor Gedanken lesen kann, legt mir ihre Hand auf die Schulter und führt mich in das kleine Zimmer, das bis anhin von Frauen belegt war. Da sitzt er. Genau so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Mit kurz geschnittenen grauen Haaren, nacktem Oberkörper, um den Hals einen mit grünen Steinen besetzten Rosenkranz. Seine Beine stecken in kurzen Hosen, seine Füsse in Flipflops, und seine milchig weissen Augen blicken ins Nichts.
«Good morning, Felix! Wie geht es dir?»
Felix streckt seinen Rücken durch, hebt den Kopf, dreht ihn in meine Richtung, sagt: «Das ist nicht meine Tochter, nein?»
Felix nennt Lotti nicht Lotti, sondern «my daughter». Als Nigerianer spricht er, nicht wie alle anderen hier Französisch, sondern Englisch, was seine Möglichkeiten, zu kommunizieren, leider stark einschränkt.
«Nein, ich bin nicht deine Tochter, ich bin…»
Felix hindert mich mit einer Handbewegung am Weitersprechen. «Goby!»
«Ja», lache ich, setze mich neben ihn hin und berühre seinen Arm, «weisst du, dass du der Einzige bist, der mich so nennt?»
«Oh? Wie nennt man dich dann?»
«Gaby, aber ich glaube, ich mag Goby besser.»
Das stimmt und liegt daran, wie Felix die ganze Tiefe seiner Stimme in das O legt und dieses in die Länge zieht.
«Wie geht es?», will er nun wissen.
«Gut», sage ich.
«Wie lange bleibst du?»
«Eine Woche.»
Es ist verblüffend, wie Felix sein Erstaunen, das er nicht mehr in seine Augen legen kann, mit seinem ganzen Körper zum Ausdruck bringt. «Nur eine Woche?»
Ich verspreche ihm, ich würde Zeit finden, viel mit ihm zu reden, drücke seinen Arm und stehe dann auf, weil mich der Junge, der zwei Betten neben Felix liegt, schon fast magisch anzieht. Sein Lächeln gibt wunderbar weisse Zähne frei. Ich stelle mich vor, bekomme daraufhin noch mehr Zähne zu sehen. Sein ganzes Gesicht scheint aus Mund zu bestehen, und dies nicht nur, weil er so erbärmlich dünn ist, sondern weil er einfach einen so wunderbar grossen Mund hat. Seine Augen sind sanft und von tiefem, fast schwarzem Braun. Sein Kopf ist so kahl wie der eines alten Mannes. Zur Begrüssung reicht er mir seine feingliedrige Hand, legt sie so zart in meine, dass ich das Gefühl
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