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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
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habe, einen kleinen Vogel in der Hand zu halten.
    «Guten Tag, ich heisse Noël. Könnten Sie Arlette fragen, ob sie mal bei mir vorbeischaut?»
    Ich nicke, gehe hinaus und suche Arlette, die inzwischen zum Team gehört und denselben Lohn erhält wie alle anderen auch. Lotti hat mit allen Mitarbeitern besprochen, dass es keine Lohnstufen gibt, sondern, dass das zur Verfügung stehende Geld gerecht auf alle verteilt wird. Das ergibt für jede und jeden pro Monat hundert Schweizer Franken. Oder in CFA, der Landeswährung, vierzigtausend afrikanische Francs. Für die Miete bezahlt man im Slum zwischen zehn- und zwanzigtausend Francs. Bleiben pro Tag höchstens knappe zwei Franken, um die Familie zu ernähren. Für Lotti ist es ein Problem, nicht mehr bezahlen zu können.
    Arlette ist heute unauffindbar. Weder steckt sie in der Küche, um Gemüse zu rüsten oder Geschirr abzuwaschen, noch inmitten der Kinderschar, die sich um einen Ball gruppiert hat.
    «Arlette», erklärt Lotti, «ist in der Kirche und wird erst gegen Abend zurückkommen. Ich habe ihr gesagt, sie solle sich ein paar Stunden für sich alleine nehmen, du machst dir ja keine Vorstellung, was diese Frau tagein, tagaus leistet. Von den Nächten ganz zu schweigen.»
    Arlette legte Emanuel, als dessen Mutter Noëlle starb, zu ihren beiden Kindern auf die Matratze. Als ein paar Tage später auch noch Christs Mutter, Chantal, starb, legte sie diesen zu sich auf die Matratze. Dann kam Willy, und sie legte sich auf eine Matte auf den Boden und Willy zu Christ. Willys schwere Hustenanfälle, die durch eine nicht ansteckende Lungen-Tuberkulose ausgelöst wurden und an denen er oft schier erstickte, brachten sie nächtelang um den Schlaf. Als die Krankheit endlich auskuriert war, tauchte Antoine auf, der Kleinste, der nicht Aids hat, sondern Eltern, die ihn nicht mehr wollen, und der tat, was Babys gerne tun: schreiend die Nacht zum Tag erklären. Und dies alle zwei Stunden von neuem. Damit er dabei nicht auch noch seine «Geschwister» weckt, schläft er inzwischen in einem eigenen Gitterbettchen.
    Als ich das erste Mal hier war, hatte Arlette zwei Kinder, ihre eigenen. Beim zweiten Mal kümmerte sie sich um vier. Inzwischen sind es – mit Mohamed, der allerdings jeden Abend von seinem Onkel abgeholt wird – sieben. Am Tag teilt Arlette sich die Arbeit mit Solange, dem Kindermädchen. Aber sie ist es, die alle ins Bett bringt. Ein Ritual, das seinesgleichen suche, wie mir Lotti mal andeutete. Ich hoffe, es während der nächsten Tage erleben zu dürfen.
    Zurück bei Noël, sage ich ihm, dass Arlette bis heute Abend weg sei, und frage, ob ich etwas für ihn tun könne.
    «Nein», erwidert er, «ich wollte bloss ein bisschen mit ihr reden, aber das hat Zeit bis morgen.»
    «Darf ich dir Gesellschaft leisten?», frage ich und setze mich auf sein Nicken hin auf die Bettkante. Ich erzähle ihm, was ich hier tue, frage, ob er gerne hier sei. Ich erfahre, dass er am 25. Dezember Geburtstag hat, dass seine Mutter, sein Vater sowie sein Bruder gestorben sind und nur noch seine Schwester lebt. Wo, das weiss er nicht. Seine Grosseltern haben sich rührend um ihn gekümmert und ihn immer wieder zu Dr.Chenal gebracht. Henri Chenal ist es dann gewesen, der dem Jungen angesehen hat, wie unglücklich er war. Er stellte ihm Fragen und erfuhr, dass die Grosseltern zwar sehr nett mit ihm sind, die Nachbarn hingegen ganz und gar nicht. Man zeigte mit Fingern auf ihn, den offensichtlich Aidskranken, mied ihn wie die Pest. Der Arzt fragte Lotti, ob Noël zu ihr ins Spital kommen könne.
    «Lotti», erzählt Noël weiter, «war sofort einverstanden und versprach, hier sei ich kein Aussätziger, sondern einer wie alle anderen auch.»
    Die Ruhe, die von dem erst Siebzehnjährigen ausgeht, ist ebenso bemerkenswert wie die Weisheit, die in seinen Augen liegt. Beides beunruhigt mich allerdings zutiefst, weil ich hier gelernt habe, dass junge Menschen, denen eine unheilbare Krankheit viel Zeit zum Sterben lässt, unverhältnismässig schnell reif werden.
    Noëls Bett steht gleich neben der sperrangelweit geöffneten Türe. Die Sonne fällt, durch ein Vordach gefiltert, mitten in sein fein geschnittenes Gesicht. Blendet ihn ein bisschen. Er schliesst die Augen, kurze Zeit später schläft er ein.
    Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass auch Felix schläft. Im Hof schlafen die Kinder kreuz und quer auf einer Matte. Hortense, die Köchin, macht ebenfalls ein Nickerchen. Solange, das

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