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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
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grösser und grösser wird. Elisabeth erzählt, Deborahs Kopf habe vor neun Monaten zu wachsen begonnen.
    Das Kind liegt leblos da. Die Augen sind ein wenig geöffnet, reagieren aber nicht im Geringsten auf Bewegungen oder Stimmen. Lotti geht hinaus, bittet Ange, einen der Krankenpfleger, frische Tücher zu holen. Sie hat sofort gesehen, dass das Kind bereits im Koma liegt und nicht mehr lange leben wird.
    Ich begleite Ange nach draussen, um ihn dort richtig begrüssen zu können. Als ich wiederkomme, weint nicht die Mutter, sondern Lotti. Ich weiss, was sie rührt. Es sind die winzigen Zehen, die kleinen Finger, die schmalen Ärmchen, die leicht mit Babyspeck bepackten Oberschenkel, der zarte Brustkorb, der kleine Hals und dann das, was so überhaupt nicht dazu passt, dieser riesige Kopf. Die Gesichtszüge der Kleinen sind verzerrt. Der Kopf blockiert den Körper. Deborah war es ganz offensichtlich verwehrt, zu krabbeln, zu sitzen, sich zu drehen, geschweige denn neugierig den Kopf zu heben, um zu erkennen, was um sie herum passiert.
    Elisabeth erzählt, der Vater der Kleinen habe sie schon verlassen, als sie schwanger geworden sei. Sie lebt bei ihrer älteren Schwester und deren Mann, die aber keine Freude an ihr und ihrer Tochter haben. Durch Deborahs Krankheit ist es ihr unmöglich, Geld zu verdienen. Die Einundzwanzigjährige ist auf Gedeih und Verderb dem guten Willen ihrer Schwester und deren Mann ausgeliefert.
    «Deborah», erzählt sie, «hat von Geburt an immer nur geweint, manchmal hat mich das fast zur Raserei getrieben.» Dann stockt sie. «Wird Deborah sterben?»
    Lotti schaut Elisabeth direkt in die Augen, legt eine Hand auf die Stirn der Kleinen, sagt: «Ja, sie wird heute noch sterben, sie liegt jetzt schon im Koma, schläft ganz tief, lässt sich nicht mehr stören. Du kannst aber trotzdem mit ihr sprechen. Sie spürt, dass du da bist. Streichle sie, zeige ihr, dass du sie liebst. Und sei beruhigt, sie hat keine Schmerzen.»
    Elisabeth streichelt ihr Kind nicht, behält die Hände zwischen ihren Knien, fragt Lotti, ob es schlimm sei, dass die Kleine nie getauft worden sei.
    Lotti lächelt: «Es war Gott, der entschieden hat, dass es Zeit ist, das Leiden Deborahs zu beenden. Er wird sie mit offenen Armen empfangen. Deborah kommt auch ungetauft in den Himmel, und zwar so wie alle anderen Kinder auch, auf direktem Weg.»
    Da die Mutter nach wie vor keine Anstalten macht, sich der Kleinen zu nähern, nimmt Lotti Deborah in die Arme, hebt ihren Kopf, drückt ihn an sich, spricht zärtlich und ganz leise auf sie ein. Der Atem der Kleinen wird zwischendurch so flach, dass die Bewegung, die er im Brustkorb auslöst, an den Flügelschlag eines Schmetterlings erinnert. Ich habe hier gelernt, dass das Sterben Stunden dauern kann, weiss, dass Lotti fähig ist, diese Stunden in derselben Position zu verbringen und die Zeit dabei komplett zu vergessen. Alles dabei zu vergessen.
    Diesmal gelingt dies allerdings nicht. Ein markerschütternder Schrei, der von draussen zu uns hereindringt, lässt Lotti ihren Blick von Deborah abwenden und mich fragend anschauen. Ich gehe hinaus, laufe Monsieur Konaté, der Nachtwache, in die Arme, komme nicht dazu, ihn zu fragen, was er denn schon am Nachmittag hier tue. Sein Gesicht ist schweissnass, die tiefe Zufriedenheit, die er sonst ausstrahlt, ist fort. Die Ruhe allerdings, die ihm eigen ist, ist auch jetzt noch spürbar. Ich begleite ihn zu Lotti, die Deborah wieder aufs Bett legt, die Mutter erneut bittet, sich dem Kind mit Worten und Gesten zu widmen, und Monsieur Konaté nach draussen folgt. Während er Lotti zu den Betten im Hof führt, erzählt er, was passiert ist: «Mamadou hatte einen heftigen Malariaanfall, infolge dessen er wie das letzte Mal ständig erbrechen musste. Wir gaben ihm ein Mittel dagegen, nein, Madame Lotti, nicht dieses, auf das er schon das letzte Mal so reagiert hat, ein anderes.»
    Mamadou ist Monsieur Konatés zwanzigjähriger Sohn. Er liegt verkrampft und bewusstlos in Alphonse’ Bett, derweil dieser, ganz offensichtlich hoch zufrieden mit dem Umstand, dass die alte Ordnung wiederhergestellt ist, auf seinem heiss geliebten Sofa thront. Auf Anweisung Lottis wird eine Injektionsspritze mit Valium aufgezogen, bevor sie jedoch gesetzt werden kann, zerreisst ein weiterer Schrei die Luft.
    In der Stille, die folgt, verdreht Mamadou die Augen nach oben, presst den Kiefer so zusammen, dass sich die Gesichtsmuskulatur abzeichnet, als wäre die Haut

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