Madame Lotti
Kindermädchen, hat sich auf einer Bank ausgestreckt, Félix, der Pfleger, auf dem Schaukelstuhl. Nur eine sprüht trotz der feuchten Hitze, die auch mir jede Energie aus den Poren spült, vor Tatendrang: Madame Lotti. Am Wasserhahn füllt sie leere Pet-Flaschen auf. Zur Siestazeit, erklärt sie, gebe es genügend Druck in den Wasserleitungen, den sie nun, wo das Wasser so rar sei, ausnützen wolle.
«Wenn ich damit fertig bin, lade ich dich zum Mittagessen ein. Für einmal nicht hier im Slum, sondern in einem kleinen Hotel, in dem ich früher oft mit meiner Familie die Sonntage verbracht habe, wenn wir keine Lust hatten, zu unserem Anwesen am Meer zu fahren.»
«Stimmt», foppe ich sie, «das hatte Madame ja auch noch. Nicht nur einen Koch, einen Chauffeur, einen Swimmingpool, sondern auch noch drei vollklimatisierte Bungalows am Meer. Muss das ein schönes Leben gewesen sein.»
Lotti schmunzelt: «Es waren nicht drei – es waren vier, meine Liebe!»
Bevor wir das Sterbespital verlassen, führt mich Lotti in ein neu errichtetes Häuschen vis-à-vis der kleinen Leichenhalle. Eine Tür, ein kleines Fenster, ein Bett, eine Matratze auf dem Boden, ein Ventilator, ein Stuhl, der als Nachttisch dient, und eine Kommode.
Lotti erklärt: «Das ist unser Jugendhäuschen. Im Moment wohnt nur Aimé hier, du kennst ihn, er ist eine Leseratte.»
Aimés Lachen, das er uns zur Begrüssung schenkt, findet nur leisen Widerhall in seinen Augen. Es ist allerdings keine Traurigkeit, die in ihnen liegt, sondern eine vornehme Distanz. Und die ist es, die mich daran erinnert, dass ich ihn tatsächlich schon einmal gesehen habe. Kennen allerdings, so wie Lotti das sagt, tue ich ihn nicht. Er kam an meinem letzten Tag im Juni letzten Jahres mit einem Brief zu Lotti. Darin stand, dass Aimé Aids habe und man sie bitte, ihm dies mitzuteilen.
Lotti weiss, dass man das Wort Aids hier in Afrika nicht in den Mund nimmt. Viele der Ärzte umgehen es, indem sie kranke Menschen tausendundeinem Test, nur nicht dem einzig richtigen unterziehen. Sie tun dies nicht in erster Linie, weil sie den Kranken das Geld aus der Tasche ziehen wollen, sondern, weil sie die Konsequenzen eines positiven Ergebnisses, eben das Gespräch über Aids, fürchten.
Damals setzte Lotti sich mit Aimé auf die Bank in der Ecke bei der Küche, gab seiner Krankheit einen Namen, erklärte, wie sie ihm helfen werde, und bot ihm an, bei ihr zu bleiben. Aimé ging es schlecht. Sein angeschlagenes Immunsystem hatte ihn eine bekannte Begleiterscheinung von Aids entwickeln lassen, das Kaposi-Sarkom. Eine bösartige Form von Hautkrebs, der von den Blutgefässen ausgeht und rötlich blaue Tumore macht. Eine Krankheit, an der auch Alphonse leidet. Bei Aimé war das ganze Gesicht befallen. Der Krebs verwandelte seinen linken Fuss in eine einzige Wunde, die ihn bald am Alleingehen hinderte. Noch heute – nach fast einem Jahr – ist sie nicht ganz verheilt. Aber Aimé, der damals nahe am Tod war, geht es inzwischen wieder so gut, dass er jeden Tag ans Gymnasium gehen kann. Aimé, erzählt mir Lotti, als wir das Häuschen wieder verlassen, habe unendlich gelitten und sie oft gefragt, warum er so leiden müsse. «Er hat allerdings nie eine Antwort darauf erwartet, sondern diese immer gleich selbst angehängt. Er meinte, Gott wolle seinen Glauben an ihn prüfen.»
Die Fahrt zum Strandhotel führt durch einen dichten Palmenwald zu einem Quartier am Meer, dessen verlotternde Herrschaftshäuser vom ehemaligen Glanz der Elfenbeinküste zeugen. Das Hotel besteht aus mehreren kleinen Häusern, die mit Palmwedeln gedeckt sind. Die Tischchen des Restaurants stehen im Freien, direkt vor einem Sandstrand, an welchem leise rauschend das Meer leckt. Wir können uns einen Tisch aussuchen. Nur einer ist besetzt.
«Früher», erzählt Lotti, «bekam man, ohne zu reservieren, keinen Platz.»
Sie empfiehlt Spaghetti puttanesca, die wir dann auch, zusammen mit einer grossen Flasche Wasser, bestellen.
Irgendetwas hier erinnert mich an die Szene eines Films über Apnoe-Taucher, den ich vor langer Zeit einmal gesehen habe: «Im Rausch der Tiefe» von Luc Besson. Ich frage Lotti, ob sie ihn kenne.
«Natürlich kenne ich den. ‹Le Grand Bleu›, so heisst er auf Französisch. Ein grossartiger Film.»
«Mit einem traurigen Ende.»
«Nein!», protestiert Lotti, «das Ende ist nicht traurig, es ist wunderschön! Dass man den Hauptdarsteller dem Ruf des Meeres folgen und ihn das tun lässt, was er will,
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