Madame Lotti
sitzt ganz vorne. Nicht an einem Pult, sondern in ihrem Rollstuhl. Auf den Armlehnen liegt ein Brett, darauf ihr Heft.
Rebecca leidet an der Glasknochenkrankheit und hat x-fach gebrochene Arme und Beine. Lotti hat sie mir bei meinem ersten Besuch mit den Worten: «Und das ist meine gescheite Rebecca», vorgestellt. Dass die Kleine mit dem unnatürlich abgewinkelten Arm schreiben kann, ist unglaublich. Sie hält eine Kreide in ihrer Hand, streckt sie in die Höhe, sagt: «Wir haben nicht
genügend
von dieser Kreide.»
Rebecca, Yusuf und Bouba, sie alle sind hier, weil Lotti das Schulgeld für sie bezahlt. Auch einige der anderen Schüler unterstützt sie. Die meisten der Kinder haben Aids und können deshalb nicht an eine öffentliche Schule. Dort herrscht die strikte Weisung, «positive» Kinder abzulehnen. Was aber auch als Glück gesehen werden kann: In öffentlichen Schulen sitzen in einer Klasse nicht dreissig, sondern achtzig Schüler.
Doch was hier eine Privatschule ist, wäre bei uns schlichtweg nicht denkbar. Die meisten der Kinder stecken in schmutzigen, zerrissenen Schuluniformen, die anderen tragen T-Shirts voller Löcher und Hosen, die sie mit Schnüren um den Bauch binden müssen, weil die Reissverschlüsse kaputt oder die Knöpfe abgerissen sind. Bücher halten oft nur noch durch Klebebänder zusammen, haben abgegriffene Ecken und sind grau vor Schmutz. Die grosse Wandtafel, auf die der Lehrer schreibt, hat Stellen, an denen das Holz unter dem Schiefer durchschimmert. Die Hefte, das sieht man von weitem, sind aus dünnstem Papier. Die kleinen Schreibtafeln teilen sie sich oft zu zweit. Genauso wie die Kreide. «Wir haben nicht
genügend
Kreide!»
Der Lehrer lächelt Rebecca an: «Gut! Du hast das Adverb
genügend
mit einem ‹nicht› gebraucht, sehr gut, Rebecca.»
Nun blitzt im Gesicht der Kleinen neben ihrer wachen Intelligenz Stolz auf, und so traurig es ist, sie anzuschauen, so wunderschön ist in diesem Moment ihr Strahlen.
Der Lehrer, den alle nur «Monsieur», nennen, hat die Klasse fest im Griff. Keiner redet dazwischen, niemand steht auf, ohne vorher seine Erlaubnis eingeholt zu haben, kein Getuschel. Die Klasse hängt geradezu an seinen Lippen: «Gut, gehen wir zur nächsten Lektion. Wisst ihr, was eine Lokomotive ist?»
Staunen. Nein, niemand scheint zu wissen, was eine Lokomotive ist.
«Versucht es, keine Angst, sagt, was könnte eine Lokomotive sein?»
In der zweithintersten Reihe hebt sich ein Arm, der Lehrer nickt der Kleinen zu, sie steht auf: «Ein gefährlicher Fisch?»
Nun, da niemand weiss, was eine Lokomotive ist, lacht sie auch niemand aus. Nur der Lehrer lächelt ein bisschen, als er sagt: «Nein, eine Lokomotive zieht einen schnellen Zug, einen sehr, sehr schnellen Zug.»
Und zeichnet dann einen sehr, sehr schnellen Zug auf die Wandtafel, denn auch das Wort «Zug», sagt seinen Schülern so viel wie «Fünfsternhotel», «Member-Card», «Duty-free-Shop» oder «Gourmettempel», nämlich nichts. Sie leben in einer Welt von ein paar hundert Quadratmetern. Kommen nie aus dem Slum heraus.
Wenn sie grösser sind, kann es sein, dass ihre Welt – falls sie das Geld für das öffentliche Taxi haben – sich auf ein paar Quadratkilometer ausdehnt. Grösser, das hat mir Ouattara verdeutlicht, grösser wird ihre Welt nicht. Aber – sie lernen lesen, und sollten sie später einmal das Glück haben, sich ein Buch kaufen zu können, dann kann es sein, dass sie doch auf Reisen gehen. Lesend erfahren, dass es in Paris so kalt wird, dass das Wasser gefriert, und dass man in London Englisch spricht.
Nachdem Yusuf die Geschichte von der Lokomotive und dem Zug, in dem Vater und Tochter eine Reise machen, ziemlich flüssig vorgelesen hat, fragt der Lehrer seine Schüler, wer die Geschichte in einem Rollenspiel vortragen will. «Ich, ich, ich, ich», jedes möchte vor die Klasse treten. «Monsieur» bestimmt einen Jungen aus der vordersten und ein Mädchen aus der hintersten Reihe, und das kleine Theater ruft herzliches Gelächter hervor.
Den Lehrer freuts. Stolz auf seine Klasse, steht er neben der Wandtafel. Das eine seiner Beine ist merklich kürzer als das andere. Wenn er geht, schleppt er den linken Fuss nach. Seine Behinderung untergräbt seine Autorität in keiner Art und Weise.
Die Stunde wird mit einem Lied beendet, dessen Wortlaut unmöglich zu verstehen ist, so vielstimmig und fröhlich chaotisch kommt es daher. Noch bevor ich mich richtig vom Lehrer habe verabschieden
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