Madame Lotti
meine Nase zu schonen, sondern meine Ohren und mein Herz. Dieu-Donnés Schreie tun weh.
Ich setze mich zu Alimata, frage, ob sie uns morgen begleiten werde.
«Wohin?»
«Zu Dr. Chenal.»
Alimata schüttelt den Kopf, sie will längst nicht mehr mit zur Therapiestunde, die Chenals Zentrum aidskranken Kindern anbietet. Ich lasse sie in Ruhe, besuche noch Maeve, die für einmal nicht weint, aber anscheinend trinken will. Ich bringe Wasser, sie nimmt grosse Schlucke, kaum ist der letzte unten, kommt alles in einem Schwall wieder hoch.
«Wie immer», meint die Mutter lakonisch und streichelt der Kleinen über die Stirn. Vis-à-vis von ihr liegt eine Frau, die ich heute zum ersten Mal sehe. Sie heisst Thérèse und ist wunderschön. Offenbar hat man ihr schon als junges Mädchen an Stirn, Händen und Füssen die Zeichen ihres Stammes in die Haut geritzt.
Thérèse erzählt mir, sie sei zweiunddreissig und habe drei Kinder. «Sie sind sechzehn, zwölf und drei Jahre alt. Lotti will mich ins Mütter-Patenschaft-Projekt aufnehmen.»
Ich gratuliere ihr dazu, gehe dann weiter zu Émilie, die von Véronique gerade ihr Nachtessen eingelöffelt bekommt.
Als ich draussen ein lautes Jubeln höre, gehe ich hinaus und sehe, wie die Kinder durch den Hof Richtung Eingangstor stürmen und dort – eins nach dem anderen – durch die Luft gewirbelt werden. YaYa hat zwar gekündigt, weg ist er deswegen aber offenbar nicht. Schön.
Bei Spaghetti und Nierchen erzählt mir Lotti, sie habe für Jean-Baptiste, der ja nun Pfleger sei, eine Nachfolgerin gefunden. Es ist die Frau von Monsieur Grogba, der nach vier Jahren Arbeitslosigkeit die Idee hatte, ein Geschäft als Latrinenputzer zu eröffnen. Der Mann, der kaum sehen und nur noch langsam gehen kann, machte Verträge mit den Familien, die sich eine Latrine teilen, und putzte für ein kleines Entgelt, was niemand putzen wollte. Bei meinem zweiten Besuch brachte ich ihm einen Sack Gummihandschuhe und eine Tüte mit im Flugzeug erbettelten Schlafbrillen mit. Im Sterbespital hatte ich beobachtet, dass das Pflegepersonal solche als Atemschutz beim Windelnwechseln benutzt. Zu der Zeit sah es noch so aus, als florierte seine Idee, er hatte sogar zwei Mitarbeiter. Inzwischen hat niemand mehr Geld für einen Latrinenputzer, und so ist Monsieur Grogba wieder arbeitslos und seine Frau umso erfreuter, bei Lotti eine Anstellung gefunden zu haben.
Wir beenden den Tag in Lottis Zimmer, wo sie mir auf meine Bitte hin einen ihrer liebsten Texte vorliest:
Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, erwache früh. Ich gehe ans Meer, setze mich an die Lagune, schaue der Sonne beim Aufgehen zu. Bevor sie meinen Körper wärmen kann, wärmt mir die Schönheit, mit welcher der neue Tag geboren wird, mein Herz. Ich empfinde so tiefen inneren Frieden, dass ich zu weinen beginne. Danke dir, Leben! Danke für meine drei wundervollen Kinder. Danke für meinen Mann, den grosszügigsten Menschen auf Erden. Danke für diesen neuen Tag. Er gibt mir die Kraft und das Vertrauen, das ich brauche, um meine Arbeit zu tun. Ich werde das Licht, das ich hier sehe, in mich aufnehmen und versuchen, es den ganzen Tag in kleinen Portionen in den Slum zu verströmen
.
An dieser Stelle unterbricht Lotti, der Geruch, der aus meinem Zimmer und nun in Lottis Zimmer kriecht, schreckt uns beide zeitgleich auf. Ich wage kaum aufzustehen, denn ich weiss sofort, was da so stinkt: verbranntes Plastik. Ich hatte vergessen, dass ich Tee machen wollte. Der Tauchsieder hatte, nachdem das Wasser gründlich verdampft war, den Glaskrug zum Bersten gebracht und brennt nun ein Loch in den aus Plastikschnüren gewobenen Teppich. Der Schreck fährt mir ganz gewaltig in die Glieder. Was, wenn ich mit meiner Fahrlässigkeit den ganzen Slum abgefackelt hätte?
Lotti lacht mich aus: «Du mit deinem hätte, du hast nicht, also beruhige dich.»
«Aber das Loch im Teppich!»
Lotti schaut mich an: «Du meinst doch nicht im Ernst, das sei ein Problem für mich, darf ich jetzt weiterlesen?»
Und also fährt sie fort:
Es geht nicht lange, da setzt sich jemand neben mich. In Afrika ist man niemals alleine. Die Einsamkeit existiert hier nur, wenn man sie sucht, sich zu Hause einschliesst, das Telefonkabel auszieht und sich Ohropax in die Ohren stopft
.
Wir sitzen einfach da, irgendwann fragt mich der Mann: «Was tust du hier?»
«Ich geniesse diesen schönen Morgen. Siehst du, was für ein schönes Land du hast? Siehst du die Fischer, die zur Arbeit
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