Madame Lotti
doch jetzt schon, eigentlich.»
Lotti wehrt ab. «Es ist ein Unterschied, Jean-Baptiste, ob Sie dreimal im Tag in die Zimmer gehen, um den Boden zu wischen und die Nachttische abzustauben, oder ob Sie zehn-, was sag ich, zwanzig-, dreissigmal reingehen, um Windeln zu wechseln, zu trösten, zu pflegen.»
Jean-Baptiste meint: «Ich kann das schon, Madame Lotti, ich will hier arbeiten und Ihnen helfen.»
«Die Kranken sind schwierig, fragen Sie Félix, der kann Ihnen ein Lied davon singen.»
Félix richtet seine Brille, räuspert sich: «Unsere Patienten können tatsächlich sehr mühsam sein. Es gibt solche, die ständig etwas verlangen, immer etwas auszusetzen haben, sich aufführen, als wären sie in einem Hotel und wir ihre ganz persönlichen Sklaven. Seit drei Tagen habe ich einen neuen Patienten dieser Art, er beschimpft mich, er schmeisst seine gebrauchten Taschentücher auf den Boden und befiehlt mir, sie aufzuheben. Ich rege mich fürchterlich über ihn auf und muss ihm trotzdem die Windeln wechseln, das ist nicht einfach.»
Lotti will wissen, von welchem neuen Patienten Félix redet, und ich weiss, dass sie diesem, sobald die Sitzung fertig ist, die Leviten lesen wird.
Jean-Baptiste bekräftigt einmal mehr, er wolle Lotti helfen und deshalb den neuen Posten annehmen. Lotti aber will, dass er ganz genau weiss, worauf er sich einlässt: «Windeln zu wechseln, das ist ein technischer Akt, das werden Sie schnell raushaben. Aber seinen Ekel dabei nicht zu zeigen, das Würgen im Hals zu unterdrücken, wenn der Geruch einem in die Nase steigt, das ist etwas anderes und sehr viel schwieriger.»
«Mit der Hilfe von Félix schaffe ich das!»
Lotti lässt nicht locker: «Sie können auch Nein sagen, Jean-Baptiste, es ändert sich nichts, Sie behalten Ihren jetzigen Posten und helfen mir damit mehr, als wenn Sie Ihre neue Arbeit nicht gerne verrichten. Wollen Sie es tatsächlich versuchen, dann müssen Sie sich vorher fragen: Kann ich Menschen mit eiternden Wunden berühren, kann ich sie waschen, bin ich bereit, Tote aus den Zimmern zu tragen?»
«Ich möchte es gerne versuchen, wenn ich darf, Madame Lotti.»
Ich habe das Gefühl, er hat längst begriffen, um was es geht. Doch Lotti will mehr.
Und Félix hilft ihr dabei: «Lotti hat uns gelehrt, uns vorzustellen, dass wir es sind, die todkrank im Bett liegen. Oder unsere Töchter, unsere Söhne, unsere Eltern, unsere Frauen. Sie hat uns beigebracht, dass die Kranken es spüren, ob wir sie mögen oder nicht. Hat uns gebeten ihre Ungeduld, ihre Gehässigkeiten richtig zu verstehen und sie zu entschuldigen.»
Jean-Baptiste hört ruhig zu, nickt immer wieder bestimmt.
«Etwas noch», bringt Lotti an, «wir haben Menschen hier, die kompliziert sind, nicht allein wegen der Schmerzen, die sie erleiden müssen. Viele waren im Gefängnis, einige sind Diebe. Wir haben Männer in den Betten, von denen ich ganz genau weiss, dass sie ihre Frauen geschlagen haben, trotzdem sind alle willkommen.»
Félix schaut Jean-Baptiste an und lacht: «Manchmal dünkt mich, je schwieriger die Patienten sind, desto mehr liebt sie Madame Lotti.»
Und trifft den Nagel damit auf den Kopf.
Jean-Baptiste steht auf: «Madame Lotti, lassen Sie es mich bitte versuchen.»
Lotti lächelt. «Unter der Bedingung, dass Sie mich sofort informieren, wenn Sie merken, dass es nicht geht.»
Jean-Baptiste setzt einen Punkt: «Ich bin vierundfünfzig, vergessen Sie das nicht!»
Als alle drei draussen sind und Christ nach wie vor schläft, sinniere ich darüber, was Pfleger, Krankenschwestern und Putzpersonal hier Tag für Tag leisten, und mag YaYa seinen neuen Job als Lastwagenfahrer von Herzen gönnen. Nur der blinde Felix tut mir Leid, er verliert einen Freund.
Christ erwacht, als ich ihn aufs Bett lege, sagt, er habe Durst. Ich gehe mit ihm zum einzigen Wasserhahn im Hof, drehe ihn auf. Kein Wasser!
Kein Wasser zu haben, um zu duschen ist das eine. Kein Wasser zu haben gegen den Durst, das andere. Kein Wasser, um sich – nachdem man jemandem die Windeln gewechselt hat – die Hände waschen zu können, das Dritte. Aber Hortense, die Köchin, hat vorgesorgt und am Morgen etliche leere Pet-Flaschen aufgefüllt. Christ trinkt drei Becher leer, tapst dann zu Solange, die ihm etwas zu essen bereitgestellt hat.
Ich nutze den Moment und gehe zum blinden Felix. Er sitzt auf seinem angestammten Platz, dem neu bezogenen Sofa, streckt die Hände nach mir aus. «Goby?»
«Ja. Felix, sag, wer hat dich
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