Madame Lotti
nickt: «Wenn dich meine Geschichte interessiert, ja, dann schreib sie doch auf. Aber weisst du, eigentlich kannst du dir die Arbeit sparen. Lotti hat mir an meinem ersten Arbeitstag hier einen Brief auf den Computer gelegt, den ich seither in meinem Portemonnaie mit mir rumtrage, lies ihn, er sagt alles.»
Pierre!
Wie hast du mich erschüttert, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Man brachte dich in einem Rollstuhl, du warst ein Häufchen Elend, hattest dreissig Mal Durchfall am Tag, den Mund voller Wunden, warst blutarm. Du konntest nicht sprechen, nicht gehen, nicht essen, kaum trinken, wer dich sah, wünschte, du müsstest nicht mehr lange leiden und könntest bald sterben. Drei Tage warst du bei uns, dann sah ich, wie viel Kraft in dir noch schlummerte und wie gross dein Mut noch war. Und tatsächlich, deine Menschenwürde kehrte zurück
.
Als du wieder zu sprechen begannst, sagtest du, du wollest gesund werden, um mir zu helfen. Ich sagte, das sei gut, denn ich bräuchte irgendwann sicher jemanden, der etwas von Computern versteht und mir die Buchhaltung machen kann
.
Ehrlich gesagt, wagte ich damals noch nicht zu hoffen, dass du tatsächlich einmal die steile Treppe ins Gästezimmer hochsteigst, um dort oben zu arbeiten. Der Weg, der vor dir lag, war eigentlich unüberwindbar
.
Aber du hast nicht aufgegeben, du assest all die Schokoladenbrötchen, die ich dir vorsetzte, auch wenn du keinen Hunger verspürtest, du sammeltest jeden Tag deinen Lebensmut neu zusammen, du hieltest dich ganz diszipliniert an unsere Anweisungen. Und dann standest du eines Tages in deiner ganzen Grösse vor mir und nahmst ganz zärtlich mein kleines Gesicht zwischen deine grossen Hände, du küsstest meine Stirn und sagtest: Danke
.
Meine Tränen flossen von allein, als du nach Hause gingst. Und dann warst du weg, wieder daheim, und ich kannte noch nicht einmal deine Adresse. Per Zufall fand ich die Telefonnummer einer deiner Brüder, der einwilligte, mich zu dir zu führen. Ich machte mich auf den Weg zu dir. Angekommen in deinem Haus, empfingest du mich stolz wie ein König in deiner Tunika vor der Tür. Aufrecht und in deiner ganzen Grösse. Was für ein Glück, dich so vorzufinden!
Ich brachte dir ein Schokoladenbrötchen und die letzten Resultate deiner Blutwerte, die mir nicht viel Hoffnung gaben. Aber ich brachte dir auch den Vorschlag, dich zu einem Arzt zu bringen, damit er dir die Tri-Therapie verschreiben kann. Ich erklärte dir, du könntest sicher noch fünfzehn Jahre leben, wenn du einwilligst, und du sagtest, du wollest es versuchen
.
Als ich dich damals verliess, betete ich zu Gott, dass es nicht zu spät war, aber das sagte ich dir nicht. Und heute kommst du nun tatsächlich zu mir ins Zentrum, um hier zu arbeiten. Steigst die Treppe hinauf, lachst und strahlst und bist erst noch frisch verliebt! Ich gratuliere dir, und ich möchte dir sagen: Einen besseren Buchhalter könnte ich mir nicht wünschen!
Lotti
Nachdem ich den Brief gelesen und ihn Pierre wieder zurückgegeben habe, bittet er mich, die Fotos, die ich von ihm gemacht habe, nicht zu veröffentlichen und seinen Namen zu ändern, da seine Familie noch immer nicht wisse, woran er wirklich leide. Ich verspreche es ihm. Dann verabschieden wir uns. Pierre will noch arbeiten, und ich will ins Sterbespital runter, wo ich von einem wimmernden Christ empfangen werde. Seine Stirne glüht. Lottis Diagnose: Malaria. Ich nehme den kleinen Patienten auf den Arm und gehe mit ihm in ihr Büro, stelle dort die Klimaanlage ein, lege mich hin, Christ auf meinem Bauch.
Nach gut einer Stunde klopft es an die Türe. Lotti setzt sich zu uns. Sie brauche das Büro für eine kleine Sitzung, wolle uns aber nicht vertreiben. Ohne dass Christ erwacht, setze ich mich auf, lege ihn auf meinen Schoss, und Lotti holt den Pfleger Félix und den Putzmann Jean-Baptiste. Félix setzt sich neben mich aufs Bett, Lotti nimmt den Stuhl, Jean-Baptiste eine mit Windeln gefüllte Kartonschachtel.
Lotti beginnt ganz ernst: «Monsieur Jean-Baptiste, Sie haben es sicher schon gehört, YaYa hat gekündigt. Félix, der die Pfleger unter sich hat, schlug mir nun vor, Sie zu YaYas Nachfolger zu machen. Wären Sie interessiert?»
Jean-Baptiste zieht die Augenbrauen zusammen, nickt. «Wann soll ich beginnen?»
«Nicht so schnell, Jean-Baptiste, ich möchte, dass Sie sich mein Angebot gut überlegen, Sie müssen ganz sicher sein, dass Sie mit den Kranken arbeiten wollen.»
«Das mache ich
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