Madame Lotti
heute nach draussen geführt?»
«Ange. YaYa kommt nicht mehr.»
«Ich weiss, er fährt jetzt Lastwagen.»
Felix lächelt. «Das ist gut.»
«Hast du auch gearbeitet, früher?», frage ich ihn nun.
«Sicher, ich war Matrose.»
«Matrose? Auf einem grossen Schiff?»
Felix strahlt. «Wo denn sonst, Goby, wo denn sonst? Ich kenne alle Häfen des Mittelmeeres. Neapel, Casablanca, Marseille, Algeciras, und ich kenne auch Lissabon und Hamburg.»
«Es klingt, als hättest du eine gute Zeit gehabt.»
«Nun, ich war kräftig, meine Augen waren noch gut, und ich liebte den Geruch des Salzwassers und die Landgänge auch.»
«Du musstest aufhören wegen deiner Augen?»
«Auch, aber, nun – es kam irgendwie alles auf einmal.»
Ich merke, dass Felix traurig wird, sich zurückzieht, nichts mehr dazu sagen will, und lenke ab: «Am Samstag gehe ich nach Hause.»
«Schon? Das war aber kurz dieses Mal.»
«Ich weiss.»
«Kommst du wieder?»
«Bestimmt, und dann bringe ich dir etwas mit.»
«Oh?» Felix richtet sich kerzengerade auf.
«Gibt es etwas, das du unbedingt haben möchtest, Felix?»
«Segelschuhe.»
«Segelschuhe?»
«Turnschuhe aus Tuch, ich glaube man spielt damit auch Tennis.»
«Du möchtest Turnschuhe? Aber sind deine Flipflops hier in der Hitze nicht angenehmer?»
Felix’ Lachen kommt von tief unten: «Nicht für lange Strecken.»
«Ach so?»
«Ich möchte mich mehr bewegen, verstehst du?»
Felix nimmt seine Ellbogen hoch, streckt sie vor und zurück, tappt dazu mit den Füssen an Ort. Seine Augen sind ins Leere gerichtet.
«Ich verstehe, ich werde dir Turnschuhe aus Tuch mitbringen. Welche Grösse hast du?»
«Achtunddreissig, aber es wäre mir lieber, du würdest eine Nummer grösser bringen, dann passen sie bestimmt.»
Als ich aufstehe und gehe, scheint es, er habe vergessen, traurig zu sein. Felix sitzt da wie immer, zufrieden lächelnd und mit hoch erhobenem Haupt. Auf der nackten Brust liegt sein grüner Rosenkranz.
In Lottis Büro probiere ich aus, ob der neue Stecker meinen Laptop nun mit Strom versorgt. Er tuts! Ich setze mich an die Tastatur, höre an der Tür ein leises Klopfen.
«Herein.»
Bouba! Verlegen seine Hände knetend, kommt er schüchtern ins Zimmer, stellt sich neben meinen Stuhl und umarmt mich. Ich bin ebenso überrascht wie berührt. Der Dreizehnjährige war bis anhin sehr höflich zu mir, gab mir auch schon zwei-, dreimal die Hand, aber zu mehr hat es nie gereicht. Die Distanziertheit, die er bis heute ausstrahlte, habe ich der fehlenden Zärtlichkeit seiner Mutter zugeschrieben. Sah ich doch Assita, die ihren Mann und alle anderen ihrer Kinder verloren hat, immer nur rüde und forsch mit ihrem Sohn umgehen. Und jetzt drückt er seinen Kopf an meinen Hals und sagt: «Ich wollte richtig Hallo sagen.»
«Das freut mich sehr, Bouba.»
Ich drücke ihn ganz fest, und bevor mich die Rührung überkommt, frage ich: «Solltest du nicht in der Schule sein?»
«Doch, aber ich habe den Lehrer gefragt, ob du uns besuchen könntest, und er hat ‹Ja› gesagt und mich gleich losgeschickt. Kommst du mit?»
Ich schalte den Laptop aus, nehme meine Tasche. Zehn Minuten später führt mich Bouba in einen grossen Hof, der von vier Schulzimmern umgeben ist. Aus dem einen tönt es im Chor: «Süü-ffi-ssamo.» Und gleich noch mal: «Süü-ffi-ssa-mo.» Als ich den Raum betrete, stehen alle Schüler wie auf Kommando auf, rufen «Bonjour» und setzen sich wieder. Der Lehrer kommt auf mich zu, begrüsst mich mit Handschlag. Bouba setzt sich ans Pult, das er mit Yusuf teilt. Der Lehrer bittet mich, auf seinem Stuhl Platz zu nehmen, geht wieder zur Wandtafel, schreibt «suffisamment» hin und erklärt: «Suffisamment bedeutet, dass man von etwas genügend hat, versteht ihr?»
Wieder tönt es im Chor: «Ja, wir verstehen.»
«Dann macht mir Sätze damit.»
Nun geht ein Wald von Armen in die Höhe. Dreissig Schüler an zwölf kleinen Pulten. An einigen arbeiten drei Kinder, obwohl der Platz höchstens für zwei reicht. Der Lehrer sucht sich netterweise Bouba aus, einen Satz zu formulieren.
Er steht auf: «Ich habe
genügend
Hausaufgaben gemacht», und erntet frohes Gelächter.
Auch der Nächste, der seinen Satz loswerden darf, steht auf: «Ich habe
genügend
Holz zusammengetragen.»
Dann steht ein Mädchen auf: «Ich habe meine Schwester
genügend
herumgetragen.»
Schliesslich will auch Rebecca etwas sagen. Rebecca, die mich schüchtern anlächelte, als ich hereingekommen bin,
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