Madame Lotti
Bin regelmässig zum Coiffeur gegangen und auch zur Pedicure und zur Manicure.»
Als Lotti die Windeln öffnet, wende ich mich ab. Erstens aus Pietät Émilie gegenüber, zweitens, weil ich die Wunde nicht sehen will, von der Lotti mir erzählt hat. Die spitzen Knochen haben sich beim langen und immer gleichen Liegen im Privatspital, wo niemand mehr gewagt hat, sich der Kranken zu nähern, durch die Haut gebohrt und grosse offene Stellen verursacht. Dekubitus im Fachjargon.
Aber das hier ist kein Fachjargon, das ist real. Zu real. Ich gehe hinaus, komme kurz darauf mit einem nassen Tuch zurück, mit dem ich Thérèse’ glühendes Gesicht kühlen will. Ich tue es und entdecke, dass Lotti mir durch den Anschauungsunterricht, den sie mir gab, wortlos etwas vermittelt hat. Meine Hand gleitet über Thérèse’ Gesicht, als wäre es meines.
Als Émilie in frischen Windeln steckt, pudert Lotti ihren Oberkörper, reinigt mit einem Zahnstocher Émilies Nägel, fragt, ob sie ihr diese lackieren solle. Émilie kräuselt die Haut zwischen ihren Brauen und entscheidet: «Nein. Ich habe Hunger.»
«Gut», lacht Lotti, «inzwischen ist es auch Zeit zum Frühstücken. Hätten Sie es gerne wie immer, Madame?»
«Nein, heute will ich kein Baguette, heute will ich Toast. Und guten Kaffee. Keine Brühe!»
«Ach so? Gut, mit dem Kaffee kann ich dienen, mit dem Toast nicht. Ich werde dir Baguette mit Butter und Konfitüre bringen und einen geschnittenen Apfel, einverstanden?»
Lotti geht raus, ich werfe ein Auge auf Émilies Hände, die diesmal ruhig bleiben.
«So, bitte, Frühstück für die Dame und frischen, guten Kaffee.»
«Keinen Toast?»
«Keinen Toast, Émilie.»
Lotti setzt sich neben Émilie, lobt sie für jeden Bissen, den sie nimmt, macht ihr Komplimente für ihre schönen, noch so gesunden Zähne, die sie ihr nach dem Frühstück putzen wird, und verabschiedet sich schliesslich mit den Worten: «Ich liebe dich, Émilie, und ich brauche dich, vergiss das nicht!»
Lotti hat mir gestern gesagt, sie rechne nicht damit, dass Émilie die nächste Woche überstehe.
Draussen sitzt Dieu-Donné mit den anderen Kindern zusammen schon bei den Duplos, es scheint ihm stündlich besser zu gehen. Alimata schläft noch oder tut so, und Alphonse, der mich – wie jeden Morgen – mit einem «Salut, ça va?» begrüsst, stellt, als ich näher komme, die Lautstärke seines Radios höher, flüstert: «Schön, nicht?»
Es ist Eric Claptons Lied «Wonderful Tonight», in welchem er mit einer unglaublichen Zärtlichkeit besingt, wie sich seine Begleiterin hübsch macht, Make-up auflegt, ihr langes blondes Haar kämmt und dann fragt: «Do I look alright?» Und er ihr versichert: «Ja, du siehst wunderbar aus heute Nacht.» Alphonse möchte, dass ich ihm den Text übersetze, und während ich mein Bestes gebe, Englisch in Französisch zu transferieren, denke ich immer wieder an Émilie. Ich bin sicher, dass sich – genau wie im Lied besungen – alle nach ihr umgedreht haben, wenn sie mit ihrem Mann auf einer Party war.
Lotti hat weder im Ambulatorium noch im Sterbespital auch nur einen einzigen Spiegel hängen.
Als sie ins Ambulatorium geht, um dort Sprechstunde abzuhalten, verziehe ich mich ins Büro. Dort will ich endlich meine Notizen abschreiben. Als jedoch Emanuel, Willy, Christ und Mohamed, frisch geschrubbt und weiss gepudert, im Gänsemarsch ins Zimmer spazieren, ist es mit den guten Vorsätzen auch schon wieder vorbei. Wir gehen alle zusammen hinaus und setzen ein Puzzle zusammen. Nicht lange, und wir sind umringt von Arlette, Alphonse, Dieu-Donné und Ange, die alle mithelfen wollen und das Bild, das langsam entsteht, fasziniert anschauen. Walt Disneys Bambi.
Am Nachmittag holt uns Lotti mit dem Auto ab. Aimé, Bouba, Yusuf und Christ sind schon bereit. Emanuel, Willy und Mohamed sind noch zu jung für die Therapiestunde bei Dr. Chenal. Aus dem Slum kommen noch Christina, Serge und Moussa mit. Alle haben sich in Sonntagsstaat gestürzt. Lotti klappt die Sitzbank im Fond ihres Geländewagens runter, und mit Würgen und Stopfen und indem ich Christ, der sich von seinem Malariaanfall anscheinend erholt hat, auf meinen Schoss nehme, schaffen wir es, alle unterzubringen.
Sieben Kinder. Sieben verschiedene Geschichten. Eine einzige Krankheit.
In Dr.Chenals Zentrum angekommen, gehen wir durch die Gänge in den Hof, setzen uns dort an einen Tisch und warten auf die Psychologin. Henri Chenal kommt auf Lotti zu, strahlt eine Ruhe
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