Madame Lotti
freudestrahlend wie die anderen, aber immerhin! Auf unserem Weg in die Stadt wird gesungen, und ab und zu ist es auch ganz still im Wagen. Dann, wenn die Kinder staunen. Über grosse Lastwagen, Polizeiautos, Viehherden, die entlang der Strasse vor sich hin stinken.
Als wir in der Konditorei, die, wie Lotti verspricht, das beste Eis der ganzen Stadt macht, ankommen, stöckelt eine Dame in einem «Pied-de-poule»-Deuxpièces auf Lotti zu.
«Ich habe Sie im Fernsehen gesehen.»
«So?»
«Ich möchte Ihnen gratulieren.»
«Das ist nett, aber nicht nötig.»
«Ich will nicht aufdringlich sein, Madame, aber – darf ich alle einladen?»
«Wenn Sie wollen, gern.»
Die Frau streichelt Emanuel, Christ und Mohamed über den Kopf, geht dann zur Serviererin und sagt, wir seien ihre Gäste. Sie komme in einer halben Stunde zurück, um zu bezahlen. Und da sie offenbar Stammgast ist, glaubt man ihr. Die Kleinen bekommen eine Kugel Vanille, die Grösseren dürfen aussuchen. Da wir draussen sitzen, wird das Eis bald zu Sauce, werden Finger klebrig und Kleider bekleckert. Was solls, der Wonne, die sich in jedem einzelnen Gesicht abzeichnet, tut das keinen Abbruch. Und die Wäscherei neben dem Sterbespital wird sich über die Zusatzarbeit freuen.
Auf dem Nachhauseweg unterhält Arlettes Tochter Osé die ganze Schar. Sie singt, spielt eine vornehme Dame, palavert mit verstellter Stimme drauflos. Lebte sie in Europa, würden ihre Eltern wohl sagen: «Das Mädchen gehört auf eine Schauspielschule!»
Wieder zurück, beginne ich, mich zu verabschieden, und finde Thérèse im Koma vor. Das Mütter-Patenschaft-Projekt kommt auch für sie zu spät. Warum? Warum nur? Ich hole Lotti, die sofort Thérèse’ Mann anruft und sich dann an ihr Bett setzt.
Ich flüchte, gehe hinaus, um Alphonse auf Wiedersehen zu sagen. Und Arlette und Jean-Baptiste. Félix und Ange, den beiden Pflegern. Dieu-Donné und seiner Mutter. Wirble Emanuel, Mohamed, Willy und Antoine, Osé und ihren Bruder Hermas durch die Luft. Dann gehe ich zu Christ, der offenbar schon wieder Fieber hat. Aimé schenke ich zum Abschied meinen grossen Dictionnaire und verdrücke mich aus seinem Reich, bevor er sieht, dass mir die Tränen zuvorderst stehen. Bei Alimata bleibe ich länger sitzen, massiere ihre Hände, sage, es sei schön, sie zu kennen.
Zuletzt setze ich mich neben den blinden Felix aufs Bett.
«Goooby?»
«Ja.»
«Du gehst?»
«Ja.»
«Vergiss mich nicht.»
«Nein, Felix, ich vergesse dich nicht.»
Ich nehme ihn in die Arme, erlaube mir, ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken, und gehe zum Tor. Ich drehe mich noch einmal um, stosse mit einem älteren, sehr kleinen Mann zusammen.
«Madame Lotti?», fragt er.
«Nein, ich bin nicht Madame Lotti, möchten Sie zu Thérèse?»
«Thérèse?»
Offenbar ist es nicht Thérèse’ Mann, ich hätte es wissen müssen, er wäre ja auch ein bisschen schnell hier gewesen.
«Warten Sie hier, ich werde Lotti holen.»
Lotti will wissen, weshalb der Mann gekommen sei.
«Ich habe ihn nicht gefragt, irgendwie schien es mir dringend.»
Als Lotti zu ihm hingeht, setze ich mich auf den leer gewordenen Stuhl neben Thérèse, zwinkere Émilie zu, die gerade wach geworden ist, flüstere ein Aufwiedersehen, das sie nicht wahrnimmt.
Durch die offene Tür beobachte ich, wie Lotti mit dem Mann redet, dann mit ihm hinausgeht, sehr aufgeregt zurückkommt und den Rollstuhl verlangt. Félix, der Krankenpfleger, bringt ihn. Gemeinsam gehen sie zum Tor hinaus und kommen kurz darauf mit einer unglaublich dünnen Frau wieder zurück. Dann passiert das, was mich an Krieg erinnert: Die Frau bäumt sich auf, verdreht die Augen, sackt in sich zusammen.
Todkranke Patienten, das hat mir Lotti einmal gesagt, darf man nicht sitzend transportieren, der Blutdruck fällt ab, das Gehirn wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, der Tod kommt rasend schnell. Lotti erkennt die Situation sofort, schreit: «Wir müssen sie auf den Boden legen, schnell, schneller!»
Véronique, die Krankenpflegerin, kommt angerannt, hilft Lotti und Félix, die Kranke auf den Asphalt zu legen, wo sie sich so weit erholt, dass sie sich erbricht. Ich bleibe sitzen. Wie gelähmt. Die drei tragen die Frau von den Kindern weg zur Seite. Sie entkleiden sie, waschen sie, ziehen ihr Windeln und ein frisches T-Shirt an und bringen sie in ein Bett, das heute Nachmittag frei geworden ist. Frei geworden, nicht etwa, weil die Patientin hätte heimgehen können, sondern weil sie,
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