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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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gelöst. Denn die Chinesen sind von Grund auf alle kleine Geschäftsleute. Auch wenn man sich nur einen geringen Gewinn erhofft, gibt es immer einen, der die Sache beginnt. Drücke ihnen etwas in die Hand, und sie machen was draus. Und das war einer der ersten wichtigen Schritte zur chinesischen Marktwirtschaft. In einem solch großen Land wie China konnte man pragmatisch mit marktwirtschaftlichen Strukturen experimentierten, während man in der kleinen DDR selbst mit kleinen privaten Handwerksbetrieben den Unmut der ›sowjetischen Freunde‹ über ›bürgerliche Abweichungen‹ riskierte. Was in der DDR sofort furchtbare politische Auswirkungen gehabt hätte, das verlief in China sehr ruhig.«
    Aber dann das Jahr 1989.
    »Ich weiß noch, als der DDR-Gewerkschaftsboss Harry Tisch sagte: ›Wir weinen den DDR-Bürgern, die nach Ungarn gehen, keine Träne nach!‹ Wir, die wir auf jeden Einzelnen angewiesen waren. Wir sagten so etwas und hatten damals eine Mauer gebaut, damit wir nicht ausbluteten. Zum 40. Jahrestag der DDR hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Ich musste eine chinesische Delegation betreuen. Sie war im Schloss Niederschönhausen im Norden Berlins untergebracht,und da kam einer der Mitarbeiter der Internationalen Abteilung vom ZK der SED aus der Stadt zu ihnen. Ich weiß noch, es war ziemlich warm, und er hatte trotzdem einen Mantel übergezogen: Es sollte niemand sein Parteiabzeichen sehen!
    Und einige Monate zuvor das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Damals hatte ich eine Freundin beim Berliner Rundfunk. Und die knallte mir an den Kopf: ›Klaus, jetzt musst du eigentlich beim Ministerium aussteigen. Wie kannst du mit solchen Leuten zusammenarbeiten, die so etwas wie in China zu verantworten haben.‹ Sie sagte es, als ob ich mit den Chinesen befreundet wäre, die dieses Massaker angerichtet hatten. Ich habe ihr geantwortet: ›Wie das? Warum soll ich deshalb hier aufhören?‹ Egal wie die Entwicklung in der Welt läuft, die Arbeit im Ministerium ist mein Beruf: beobachten, analysieren, auswerten, weitergeben.
    Wir haben nach dem Oktober 1989 immer noch gearbeitet, als wäre alles wie früher. Wir waren für die Außenpolitik verantwortlich, und Krenz und andere fuhren noch nach China. Es gab Handels- und andere Beziehungen zu China. Also habe ich weiter Informationen gesammelt und Berichte geschrieben. Nach der Volkskammerwahl wurde Meckel neuer Außenminister. Mit ihm kamen neue Abteilungsleiter aus der Bürgerbewegung oder aus dem Umfeld von Meckel. Wir kleinen Leute arbeiteten weiter. Noch existierte die DDR, und wenn es einen Staat gibt, muss es auch ein Außenministerium geben. Allerdings wollten die Leute der Bürgerbewegung in der Ministeretage nichts mit uns zu tun haben. Sie hielten uns offenbar durchweg für Betonköpfe wie Axen und Co. Ich war dann plötzlich der letzte der Mohikaner in meiner Abteilung. Noch kurz vor der Auflösung des Ministeriums waren viele Kollegen wegen Stasi-Verstrickungen entlassen worden. Ich habe das Licht ausgemacht. Ich weiß noch, am 23. August 1990 habe ich den Schlüssel abgegeben. Und am Tag der Einheit, am 3. Oktober1990 – es war zufällig, aber vielleicht auch symbolisch –, verkaufte ich meine über alles geliebte rote 250er MZ.
    Mit dem politischem System verschwanden auch mein Wertesystem und meine Lebenseinstellung, und dafür habe ich noch keinen wirklichen Ersatz gefunden. Denn wenn du nicht an Gott und ein Leben danach, sondern an die Würmer glaubst, die dich fressen, wo willst du dann die neuen Werte hernehmen? Es gibt nur noch eines: die Existenz sichern.
    Jugendträume, wie wir die Welt verändern, die waren mit der Wende zerstoben. Die Chinesen machen jetzt dieselben Erfahrungen, aber sie lassen nicht auf einmal, sondern nach und nach die Luft heraus.«
    Er schlägt vor, dass ich in der Deutschen Schule auch aus dem »Grenz-Gänger« lese. »Denn wir Deutsche sind in China alle eine Art Grenzgänger.«
    Als ich mein rotes Paperback-Buch »Mitleid ist umsonst …« aus dem Regal nehme, sagt Klaus: »Bitte sei vorsichtig damit! Und lass es nicht liegen!«
    Auf den inneren Umschlagseiten sind Strichmännchen gemalt. Und daneben die Erklärungen: »Arme seitlich anheben, den Rumpf beugen …« 27 Übungen.
    »Mein Mitgefangener Ero hat sie mir in der Geiselhaft in Tschetschenien beigebracht. Und weil die Geiselnehmer mir alles Papier weggenommen hatten und ich nur dieses Buch, das ich dort wohl ein Dutzend Mal gelesen habe,

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