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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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guo ju zhu de shi jian bi zai de guo chang« – »Ich war in der Fremde länger zu Hause als in Deutschland«
    Auch der Weg zur Deutschen Schule führt am fast vollständig ausgetrockneten, von Baggern und Picken aufgewühlten Flussbett des Liangma He vorbei. Einige Arbeiter hocken um ein Feuer neben der Eisrinne, die sich in Kurven wie eine Bobbahn schlängelt. Vier Jungen ziehen einen Schlittenkasten, der mit Betonplatten beladen ist. Am Ufer steht ein handgemaltes Schild. Auf ihm wird unter einer Telefonnummer für 50 Yuan auf Chinesisch, Englisch, Russisch und Deutsch »Hilfe bei der Suche nach dem Namen, der das künftige Glück des neugeborenen Kindes garantiert« angeboten.
    Ich kann mir die Nummer nicht aufschreiben. Die Tinte ist bei minus 15 Grad eingefroren.
    Am Morgen hatten Klaus und ich Bücher für die Lesung in der Deutschen Schule aus dem Regal gesucht. Und ich bewunderte die fast vollständige Sammlung der Werke seiner Lieblingsautorin Christa Wolf.
    »Sie drückt aus, was ich empfinde, aber selber nicht in Worte fassen kann. Zum Beispiel führte sie mich mit ›Kassandra‹ zu einer manchmal gefährlich werden könnenden selbstkritischen Ehrlichkeit …
    Irgendwann fand ich ein Tagebuch, das meine Mutter als Junglehrerin noch in der Nazizeit geschrieben hat. Und darin steht, dass sie stolz ist, die deutsche Jugend im Geiste des Deutschtums erziehen zu können. Sie war jung, und wer jung ist, unterliegt der Gläubigkeit sehr schnell. Wie Millionen halbwüchsiger Chinesen, die, von Mao aufgerufen, in der Kulturrevolution die Überbleibsel des ›bürgerlichen parasitären Lebens‹ vernichten wollten. Und die, das hatten nicht einmal Hitler und Stalin geschafft, in Kampagnen zur ›Umerziehungder Eltern‹ Vater und Mutter in Lager sperren ließen.«
    Ich weiß nicht, wer von uns die Frage unserer Gläubigkeit zuerst gestellt hatte. Einig waren wir uns nur, dass weder er noch ich in der DDR der Karriere wegen in die Partei eingetreten waren, sondern weil wir an die sozialistische Idee glaubten. Gläubig waren …
    »Ich hatte mich freiwillig für drei Jahre zur Armee gemeldet«, sagt Klaus. »Das war eine logische Fortsetzung: Du warst in der Schule gut, und du weißt, wie dein Leben weitergehen wird. Da gehörte das einfach dazu. Ich war immer einer von denen, die davon geträumt haben, dass sie in dieser Welt etwas bewegen werden. Also wie Einstein und andere berühmte Leute. Oder ein bisschen kleiner … Ich bin schon bei der Armee in die Partei gegangen. Das war für mich ein normaler Schritt und nicht, wie man das heute oft von Wessis hört, ein unvermeidlicher Tribut an die eigene Karriere. Ich hätte, auch ohne in der Partei zu sein, im Außenministerium oder irgendwo anders arbeiten können. Aber das wäre für mich dann weder Fisch noch Fleisch gewesen. Wenn man dazugehört, dann gehört man eben auch richtig dazu. Und wir haben als Genossen ja nicht nur Blödsinn gemacht. Wie gesagt, man hat geglaubt. Es gab da eine Episode, die würdest du heute nicht mehr verstehen. 1980 haben wir Studenten in Berlin Kabelgräben für Straßenbahnen geschachtet. Ich war der Brigadier. Am Tag mussten wir soundso viel Meter schaffen. Es war ein heißer Sommer und eine ganz schöne Knochenarbeit, so ohne Schatten in der Sonne zu schindern. Wir machten das freiwillig, bekamen es nicht einmal bezahlt. Aber weil es für alles einen Plan gab, musste es auch ordentlich abgerechnet werden. Und eines Tages kam da einer vom verantwortlichen VEB Tiefbau und sagte: ›Na ja, wir machen das Pi mal Daumen!‹ Und wollte uns 15 Meter mehr anschreiben, als wir wirklich gegraben hatten. Da haben wir uns aufgeregt. ›Wir erzählen überall, dass wirehrlich sind und dass wir im Sozialismus nicht bescheißen und so, da können wir nicht 15 Meter mehr abrechnen.‹ Wenige Jahre später hätten wir gesagt: ›Mensch, wir müssen damals eine Meise gehabt haben.‹ Wir wollten uns einfach nicht mit etwas schmücken, was wir nicht geleistet hatten.«
    Dann die Jahre in der Sowjetunion, das Praktikum in China und die Diplomarbeit. In ihr hatte Klaus sich mit der Entwicklung der Landwirtschaft in China beschäftigt. »Damals begann man in China die großen Volkskommunen auseinanderzunehmen und den Bauern auf kleinen Parzellen zu erlauben, alle Produkte, die sie über das Soll hinaus erwirtschafteten, zu einem von ihnen selbst bestimmten Preis zu verkaufen. Dadurch wurde das Ernährungsproblem in China innerhalb weniger Monate

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