Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
Vom Netzwerk:
haben die Geiselnehmer uns noch nicht drangsaliert. Wir waren wertvolles Gut für sie. In dem Raum, in dem wir uns ständig aufhielten, standen ein Sofa, ein Sessel, ein Klappbett. Dann gab es zwei Fenster, aber die waren bis zur Hälfte verhängt. Im Vorraum waren da noch ein Ausguss, eine Badewanne und ein Herd. Nachts rollte man eine dünne Matratze auf dem Fußboden aus, dort schliefen ›Hakennase‹ und ich nebeneinander. Außerdem gabes einen Nebenraum, in dem nur ein Schrank stand. In diesen Raum sperrte man Ero und mich, wenn Leute von außerhalb kamen und sie sich zu beraten hatten. Und schließlich gab es noch diese Falltür zum Kellerloch, in dem man nicht stehen konnte. Da wurden wir hinuntergesteckt, wenn irgendwelche Verwandten der Bewacher kamen. Und dann feierten sie oben, und wir hockten unten. In dem verwilderten Garten hinter dem Haus war eine Latrine. Da brachten sie uns nur nachts hin.
    Einen Tag nach der Entführung fuhren sie mich nach Eintritt der Dunkelheit im Auto mit einer Decke über dem Kopf zu einem öffentlichen Telefonamt. Von dort aus musste ich in Berlin anrufen und die erste Forderung der Geiselnehmer, 3,5 Millionen Dollar, übermitteln. Der Chef unserer Firma sagte: ›Ja, wir holen Sie da raus, und tralalalala.‹ Natürlich hat sich damals die deutsche Polizei eingeschaltet, und andererseits war natürlich der Chef nicht wirklich geneigt, irgendetwas zu zahlen. Auch wenn er zehnmal gesagt hat: ›Wir holen Sie da raus.‹ Gedacht hat er sicherlich, dieser Schmuck, so ein Heini, so ein Ossi, der sitzt da irgendwo in Tschetschenien. Das ging dem Chef doch 100 Meter am Selbigen vorbei. (Im alltäglichen Sprachgebrauch des Unternehmens gehörte ich zu den UDOs: Unsere dummen Ossis.) Dann zog sich das hin, und je länger es dauerte, umso gemeiner wurden die Geiselnehmer gegen uns.«
    Zwei aus der Gruppe der Entführer bewachten die Geiseln Tag und Nacht: »Hakennase«, ein etwa 40-jähriger ehemaliger Knastologe, und der »Kleine«, der noch keine 20 Jahre alt war.
    »Für den ›Kleinen‹ waren im Leben angeblich nur zwei Dinge wichtig: Mercedes fahren und Menschen umbringen. Schon mit 16 hatte er den ersten Menschen, eine osetische Scharfschützin, getötet. Auf meinem Laptop, den sie mir in der Befürchtung, ich könnte mich damit in irgendeiner Form mit der Außenwelt in Verbindung setzen, weggenommen hatten, probierte er verschiedene Spiele aus. Er beschäftigte sichmit ›SimCity‹, baute eine Stadt auf, legte Wasser- und Stromleitungen, errichtete Wohnhäuser, konstruierte Bürogebäude, Krankenhäuser und Feuerwehrdepots. Immer größer und immer schneller wuchs seine Stadt, sie war in ihrer Infrastruktur vollkommener, als ich es je zustande gebracht hätte. Außerdem benutzte er das Computer-Zeichenprogramm und malte sehr oft die Flagge der tschetschenischen Separatisten: zwei dicke grüne – grün ist die Farbe des Islam – Streifen, die von zwei dünnen weißen und einem roten getrennt werden. In der oberen grünen Hälfte befindet sich das schwer zu zeichnende Wappen: ein goldener Schild, auf dessen blauem Rund ein silberner Wolf auf einem goldenen Podest liegt. Bestrahlt von einem silbernen Mond und begrenzt von silbernen Sternen.
    Als die Verhandlungen über das Lösegeld nicht vorankamen, wurden Schläge die alltägliche Normalität. ›Hakennase‹, der am Tag immer links von mir auf dem Sessel hockte, traf bei jeder Antwort, die ihm nicht gefiel, mein linkes Ohr. Nach Wochen begann es zu eitern, ich hatte Angst, taub zu werden, und noch heute spüre ich den Schmerz. Auch die Drohungen, dass wir am Morgen nicht mehr leben würden, versuchte ich wegzustecken. Ich hatte eine Abmachung mit mir selbst getroffen: Erst wenn ich einen Pistolenlauf am Kopf spüre, glaube ich, dass ich jetzt und hier sterben muss. Und selbst die Demütigungen, bei denen ich hilflos zusehen musste, wie Ero von ›Hakennase‹ gequält wurde, waren noch nicht das Schrecklichste: Ein alter Mann mit einem Tischtuch um die Schultern gewickelt, der möglichst lautlos seinen Urin in einer Ecke des grob ausgehobenen Kellerloches lassen muss, weil seine Blase die Kälte nicht aushält. Als er herauskriecht, ist er total erstarrt, schlottert am ganzen Leib, kniet am Ölradiator nieder, hebt sich den noch warmen Teekessel auf den Kopf …
    Die größte Angst hatte ich vor ihrer Drohung, dass sie von den Kämpfern in den Bergen eine dort schon seit Monaten gefangen gehaltene russische Geisel holen.

Weitere Kostenlose Bücher