Madame Zhou und der Fahrradfriseur
›Hakennase‹ schrie:›Nicht wir, sondern ihr werdet diese Geisel erschießen! Entweder ihr tötet den Russen, oder wir töten euch!‹ Und höhnisch setzte er hinzu: ›Das könnt ihr euch doch nicht entgehen lassen. Einen Menschen töten zu dürfen, das ist eine große Sache.‹«
In solchen Situationen hatte Klaus daran gedacht zu fliehen.
»Unsere Bewacher, eine Mischung aus Knastologen und streng gläubigen Islamisten, wussten nicht, dass ich ihre Kalaschnikow-MPis und ihre Makarow-Pistolen, die sie im Schlaf und manchmal tagsüber herumliegen ließen, in meiner Armeezeit täglich auseinandergenommen und zusammengesetzt und damit auch häufig geschossen hatte. Doch um uns zu befreien, hätte ich zwei Menschen erschießen müssen. Zwar schwand nach all den Quälereien die moralische Hemmschwelle, einen Menschen zu töten. Doch was dann? Die Chancen, sich in der eisigen Kälte in einer fremden Gegend durchzuschlagen, standen fast bei Null. Man hätte uns als Ausländer sofort erkannt und dem nächsten Kommando übergeben. Wir wussten auch nicht exakt, wo wir uns befanden.«
Klaus sucht lange in einem Papierstapel und gibt mir dann ein Blatt.
»Ich habe später versucht, meine Gedanken von damals aufzuschreiben. Aber es ist wahrscheinlich unmöglich, das Geschehene unverfälscht und für Außenstehende verständlich wiederzugeben.
›In den ersten Wochen kann ich abends durch die geöffnete oberste Fensterklappe einen Baumwipfel sehen. Tag für Tag beobachte ich von der Sofaecke aus, wie die Farben verblassen, die Zweige dann die Form des Gesichtsprofils eines Bärtigen mit Barett anzunehmen scheinen und schließlich ganz in der Dunkelheit verschwinden. Als der Baum seine Blätter abwirft, sind die Fenster längst schon bis in die letzte Ecke zugehängt. Auch der Blick auf ein paar Zweige derWeinranken vor dem Fenster wurde versperrt. Durch die kleine Fensterklappe in der Küchennische sehe ich noch immer die Weintrauben, die bei unserer Ankunft grün waren, reif und schließlich verdorrten – und wir waren noch immer gefangen, ohne Aussicht auf Freiheit. Ich hatte am Anfang öfter versucht, wenigstens ab und zu die Augen in die Ferne zu richten. Die wenigen Meter Sicht im düsteren Raum und das an die weiße Wand Starren ließen mich befürchten, dass die Augen Schaden nehmen könnten … Als der erste Schnee gefallen ist, sagt ›Hakennase‹: ›Jetzt hat es euch erwischt, jetzt überwintert ihr mit Sicherheit hier‹, und ich erspähe während des Füllens der Wasservorratsbehälter eine braunweiße Kuh, die vor der Hütte vorbeigetrieben wird. Draußen riecht es ab und an nach Pferden …‹«
Klaus wehrt sich, als ich sage, dass er, um sich von dem Erlebten freizuschreiben, auch heute, 12 Jahre später, alles in den Computer tippen könnte.
»Nein, wie sollte ich schildern, was im Kopf vorgegangen ist, wenn ›Hakennase‹ plötzlich fragte: ›Urod – Missgeburt –, glaubst du an Allah?‹ Und ich weiß, dass jede Antwort, sowohl ein leises Nein als auch ein lautes Ja falsch und nur ein Grund für noch mehr Schläge sein wird.
Immer öfter glaubte ich, bald sterben zu müssen. Die Angst davor ließ mich über Menschen nachdenken, von denen ich mich nun verabschieden sollte, ohne mich wirklich verabschieden zu können. Und bei manchen habe ich mich damals im Kellerloch hockend für meine Nachlässigkeit, Grobheit, Unaufmerksamkeit oder Undankbarkeit entschuldigt. Auch bei meinem Klassenlehrer. Wir verbrachten mit ihm in der 10. Klasse einige Tage in einer Jugendherberge auf dem ehemaligen Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald. Am ersten Tag bedrängten wir ihn mit dem Vorschlag, abends eine Fete zu machen. Aber er sagte: ›Nein, hier ist nicht der rechte Ort für eine Party!‹ Wir ließen nicht locker und hatten unserenSpaß daran, ihn mit dieser Forderung und unseren Protesten immer mehr in die Enge zu treiben. Bis er, entgegen seinen moralischen Ansichten, aufgab und sagte: ›Gut, dann macht eure Party, ich erlaube es.‹ Aber wir entgegneten darauf triumphierend: ›Jetzt wollen wir nicht mehr! Wir brauchen keine Party.‹ Da war der Mann völlig kaputt …
An so etwas dachte ich damals nachts, wenn sie uns Videos gezeigt hatten, wie tschetschenische Kämpfer russischen Soldaten und Geiseln die Kehle durchschnitten. Nie werde ich das dabei entstehende röchelnde Geräusch vergessen … Und ›Hakennase‹ drohte: ›Wenn das Geld nächste Woche nicht kommt, werden wir euch genauso
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