Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Schritt über die Kreuzung geschoben und kommt neben einem Linienbus zu stehen.
Weil die Chinesen im Bus ungeniert von oben in unser Auto gucken, lese ich verlegen in meinem Notizbuch. Aber auch wenn ich sie anschaue, mustern sie, ohne den Blick zu senken, stumm und anscheinend ohne Gefühlsregung weiterhin das Innenleben unseres Autos.
Vor der nächsten Kreuzung schließe ich instinktiv die Augen. Ein nur Zentimeter neben uns fahrender Chinese will uns bei 90 km/h mit seinem Mercedes aus der Spur drängeln. Wahrscheinlich verhindert nur die Erkenntnis, dass sein Auto neuer und teurer ist und er keine Karambolage mit einem Ausländer riskieren möchte, den unvermeidlich scheinenden Unfall.
An der einer Autobahn ähnlichen 3. Ringstraße stehen auf den wenigen noch unbebauten Flächen zwischen den Hochhäusern kleine Laubbäume wie angetretene Soldaten in Reih und Glied. Ihre Abstände sind, so scheint es, zentimetergenau eingehalten.
Klaus erklärt, dass die chinesische Parteiführung vor einigen Jahren angewiesen hatte, Platz für den Bau neuer Fabrikanlagen und Wohngebiete zu schaffen. Und die Chinesen fällten Millionen Bäume. Als die Böden des Landes dadurch immer weiter versteppten und die Luft in den Städten von Jahr zu Jahr schlechter wurde, organisierte man eine patriotische Kampagne zur Wiederaufforstung. Und die Chinesen pflanzten Millionen Bäume. Dieses Prinzip des »demokratischen Zentralismus« sei in diesem Land mit seinen 1,3 Milliarden Menschen bei vernünftigen Beschlüssen vernünftig, philosophiert Klaus. Aber nachdem Mao beispielsweise befohlen hatte, alle Spatzen auszurotten, weil sie Getreide fressen, und die Chinesen die Vögel, sobald die sich auf einen Baum oder ein Haus gesetzt hatten, mit Rasseln und Lautsprechermusik so lange wieder und wieder aufjagten, bis Millionen kraftlosvom Himmel fielen, gab es bald keine Spatzen mehr. Die Käfer und Raupen konnten sich ungehindert vermehren. Und die Ernten wurden vernichtet. Und Hungersnöte brachen aus.
Klaus dreht »Alles Rot« wieder lauter. Anna Loos singt »Ich sag nicht Ja, nicht ohne guten Grund …«. Monika steigt vor dem Bürohochhaus aus. Ein junger Chinese in dunkelgrauer Uniform, mit klobigen Schuhen und schwarzer Schirmmütze öffnet ihr den Wagenschlag. Sie ruft uns noch zu: »Heute Abend wieder bei ›Durty Nellies‹« und verschwindet, schneller als der sie grüßende Wagenöffner ihr auch die Eingangstür aufhalten kann, im Gebäude.
»Mein Büro«, sagt Klaus, »ist zu Fuß nur 10 Minuten entfernt.« Im Auto brauchen wir genauso lange. Mit seiner grauen Fassade sieht das Gebäude neben dem Glaspalast des gegenüberliegenden Bürohauses und dem in der Glitzerwelt alles überragenden »Grand China« klein und ärmlich aus. Vor der Tiefgarage steht eine frierende junge Chinesin. Auch sie wieder in derber dunkelgrauer Uniform mit klobigen Schuhen. Weil die Automatik der Schranke nicht funktioniert, notiert sie sorgfältig die Autonummer und die Uhrzeit der Einfahrt auf einem Zettel. Wahrscheinlich hat sie das heute Morgen schon einige hundert Mal getan, denn Klaus muss, um einen Parkplatz zu finden, sehr lange in der sportplatzgroßen Garage umherfahren.
Von der Tiefgarage steigen wir auf einer glatten Marmorrampe zum Erdgeschoss des Bürohochhauses hinauf. Vor den Fahrstühlen warten junge Chinesinnen in kurzen bunten Miniröcken, auberginefarbenen Samtjacken, Bluejeans und Seidenblusen. Sie trippeln mit ihren hochhackigen Pumps, Lackschuhen oder bis zu den Knien reichenden Wildlederstiefeln unruhig hin und her und rennen von einem Fahrstuhl zum anderen, um an der Anzeige zu erkennen, welcher zuerst unten sein wird.
»Die Fahrstühle waren für ein Wohnhochhaus gedacht. Stattdessen hat man sie in diesem 26-stöckigen Bürogebäudeeingebaut, in dem stündlich Tausende Mitarbeiter hinauf- und hinunterfahren müssen«, sagt Klaus stöhnend.
Sein großflächiges Büro, in dem nur das Chefzimmer durch eine Glastür getrennt ist, befindet sich im 12. Stock. Er begrüßt Huang, den 45-jährigen chinesischen Mitarbeiter, der schon eine Brille mit sehr dicken Gläsern trägt, mit »ni hao«. Dann informiert er ihn auf Englisch und Chinesisch, dass die chinesische Delegation, die eventuell einen Vertrag mit der Firma in Mittweida vorbereiten will, inzwischen in Deutschland angekommen ist. Allerdings könnte die Weiterreise nach Mittweida wegen der im Dezember ungewöhnlich heftigen Schneefälle schwierig werden. Und weil
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