Madame Zhou und der Fahrradfriseur
chinesische Manager in einem fremden Land ohne original chinesisches Essen nicht lange bei guter Laune zu halten sind, hat er seinen deutschen Kollegen empfohlen, chinesisches Essen – »kein Fastfood der sich chinesisch nennenden Restaurants in Deutschland« – bei einem Chinesen in Dresden zu bestellen. Seine Mitarbeiterin Song, die als Delegationsbegleiterin das erste Mal in Deutschland ist, wird ihm heute Abend ausführlich Bericht erstatten.
Nach dieser Information für den Mitarbeiter schaltet er den Computer an.
Danach kocht er Kaffee.
Danach liest er die neuen E-Mails.
Danach ordnet er die auf dem langen Konferenztisch ordentlich gestapelten Papiere noch einmal.
Danach schreibt er eine Liste, wen er heute kurz vor seinem Feierabend um 18 oder 19 Uhr (in Deutschland ist es dann zwischen 12 und 13 Uhr) in der Geschäftsleitung noch erreichen muss.
Danach plant er mit Huang die Termine für den nächsten Tag.
Danach brüht er noch einmal Kaffee …
Die zwei Außenwände des Büros bestehen zum großen Teil aus bis zum Fußboden reichenden gläsernen Fensterfronten.Wegen meiner Höhenangst – als 11-Jähriger war ich in der Sächsischen Schweiz von einem Felsen gestürzt – will ich nicht hinunterschauen. Ich beobachte, am Schreibtisch sitzend, wie der Sturm Plastetüten von der Straße als lautlose durchsichtige Vögel bis zum 12. Stock und höher wirbelt, bilde mir ein, dass unser Hochhaus oder die umstehenden schwanken, zwinge mich, auf all das nicht zu achten, und beginne die Einzelheiten meines ersten Morgens in Peking stichpunktartig aufzuschreiben: Im braunen Morgenmantel Kaffee trinken … »CCTV News« auf Englisch … Frau wecken … Aktenkoffer packen … Autorennen auf dem Ring … Silly »Alles Rot« … der Chinese öffnet Moni die Autotür … die automatische Schranke der Tiefgarage, die per Hand bedient werden muss … Warten vor dem Fahrstuhl … Begrüßung des Mitarbeiters … Computer einschalten … Kaffee kochen … E-Mails lesen … Papiere ordnen …
Als Klaus wissen will, was ich schreibe, und ich ihm sage, dass ich, um nichts zu vergessen, jede Kleinigkeit des ersten Morgens notiere, entgegnet er: »Das kannst du dir sparen. Wenn du mit mir täglich vom Compound in die Stadt fährst, wirst du immer dasselbe Ritual erleben. In schönster deutscher oder vielleicht auch chinesischer Regelmäßigkeit.«
Ihn hätten geregelte Abläufe in seinem Leben allerdings noch nie gestört. Bereits auf der Oberschule wurde er für das spätere Diplomatenstudium ausgewählt und vorbereitet. Danach sei alles planmäßig gelaufen: Dienst im Wachregiment »Feliks Dzierzynski«, Auslandsstudium in Moskau und China und der Einsatz im DDR-Außenministerium.
Er glaubt, dass Regelmäßigkeit sowohl für eine Gesellschaft als auch für den Einzelnen die Grundlage für Stärke sein kann. Schon als Schulkind war Spontaneität zwangsläufig nicht sein Ding. »Mein Vater war der Stellvertretende Direktor und Lehrer an meiner Schule, meine Mutter Deutsch- und Geschichtslehrerin. Und ich deren einziges Kind.«
Mehr müsste er dazu nicht sagen.
»Schule und Disziplin gehörten für mich zusammen.« Unfug hat er kaum getrieben. Nur an eine Begebenheit erinnert er sich. »Aber die war für meine Verhältnisse schon ziemlich hochkarätig. Ich hatte bei den Nachbarn Schneeglöckchen geklaut und sie im Klassenzimmer als Frühlingsgruß in das Fenster gestellt. Meine Mutter fragte streng: ›Wo sind die Blumen her?‹ Da habe ich mir blitzschnell das Gehirn zermartert. Zum Glück fiel mir ein, dass mein Großvater an der Eisenbahnstrecke früher einen kleinen Garten besessen hatte. Der war zu meiner Zeit zwar schon Brachland, aber ich dachte, dass dort theoretisch noch Schneeglöckchen wachsen könnten. Also behauptete ich, dass ich sie dort gepflückt hätte und sagte es derart überzeugend, dass meine Mutter mir glaubte. Dennoch wartete ich danach lange auf einen Blitz oder so etwas Ähnliches, das mich für meine Lüge bestraft. Aber es kam nichts.«
Am Mittag fahren wir noch einmal zurück in unser Compound. Klaus will mich bei der Polizei anmelden.
»Ausländischen Touristen ist es in China streng verboten, Chinesen berufsmäßig zu interviewen!«
Schlechte Erfahrungen hätten ihn misstrauisch gemacht, erklärt mir Klaus. Und der chinesische Schriftsteller, der mich, ohne zu wissen, wer ich sei, nur wegen eines gemeinsamen deutschen Bekannten in Berlin per E-Mail zu einem Treffen in Peking eingeladen
Weitere Kostenlose Bücher