Madame Zhou und der Fahrradfriseur
hat, der könnte auch …
Während Klaus zur Polizei fährt, laufe ich vom Compound in das Dorf nebenan. Sun He befindet sich an der hinteren Seite unseres Compounds und ist von ihm durch eine Mauer abgegrenzt. Um in das Dorf zu gelangen, bräuchte ich nur über die brüchigen Steine zu klettern. Doch als müsste ich mich erst langsam auf die Begegnung mit dem Dorf und seinen Bewohnern vorbereiten, steige ich nicht schnell und neugierig hinüber, sondern rede mir ein, dass mich die überallumherwieselnden Chinesen dabei beobachten könnten, und laufe brav eine Viertelstunde an der Außenmauer entlang.
Im Dorf gehe ich langsam an den aus Holz oder Stein gebauten und teilweise schon eingefallenen Hütten vorbei. Fehlende Wände sind oft nur notdürftig durch Plasteplanen ersetzt. Aus dem davorliegenden Müll, den leeren Stiegen, den Autoreifen, dem Elektroschrott, den zerrissenen Tüchern, den Benzinfässern und Plastekanistern versuche ich zu ergründen, ob sich in den Gebäuden eine Reparaturwerkstatt, eine Imbissbude, ein Brotladen oder eine Gemüsehandlung befindet. Wenn ein Chinese die grauen Baumwolllappen der Tür zur Seite schiebt und mich beäugt, bleibe ich stehen und grüße freundlich nickend. Das müsste ich nicht. Ich könnte auch schnell und zielgerichtet vorbeilaufen und mir nur die grellbunten Bilder, die die Innenseite der Mauer zum Compound auf Hunderten Metern agitatorisch verschönern sollen, interessiert anschauen: Ein Kind und eine Polizistin helfen einem Großvater an der Ampel über die Straße … Ein Mann trennt und ermahnt sich prügelnde Halbwüchsige … Eine Frau im bunten Kleid sitzt unter dem Schein einer über ihr baumelnden Glühlampe vor einem Stapel Bücher … Zwei glückliche Eltern heben ihr Einzelkind strahlend in die Höhe …
Die Farben der wie von Kindern gemalten Figuren sind an vielen Stellen der Mauer schon abgeplatzt.
Neben einer Karikatur, auf dem ein Unternehmer einem Staatsbeamten wohl als Bestechung einen Stapel Geldscheine über den Tisch schiebt, befindet sich ein Hof, in dem meterhohe Haufen von Plastemüll liegen. Daneben türmen sich alte Feuerlöscher, die Reste einer Gefriertruhe, bunte verbeulte Eimer, zerrissene Kabel, kaputte Stühle und Sessel, verbogene Wasserrohe, ein Bildschirmgehäuse, Stangen, Bleche, Pappkartons …
Karikatur an der Dorfmauer
In der Mitte von all dem Unrat steht ein dreirädriger, klobiger, niedriger Transportwagen, an dessen dicker, in die Höhe ragender eisernen Ziehstange sich ein vielleicht zweijähriges Kind in roter Jacke und plustrigen rosa Hosen festhält. Ich traue mich nicht, es zwischen all dem Gerümpel zu fotografieren, und halte meine kleine Kamera unauffällig in der Hand. Ein Mann in schwarzer Stoffhose, einem dunklen Anorak, dessen Kragen gelb abgesetzt ist, und mit Halbschuhen aus Leder sieht, dass ich – wie um von meinem eigentlichen Objekt der Begierde abzulenken – das gemalte Bild des Betrügers fotografiere. Er zeigt lachend auf das Kind, hebt es von dem Bully, postiert sich mit ihm stolz vor dem Plastehaufen und dem Sperrmüll, bedeutet mir, dass ich sie fotografieren soll, und überzeugt sich dann freudestrahlend, dass die Aufnahme gelungen ist. Schließlich erklärt er mir mit Zeichensprache, dass er den Müll aus Plaste, Holz und Eisen in Peking sammelt und hier verkauft. Er bückt sich, hebt einen Stock auf, dabei rutscht ihm die randlose Brille auf die Nase, tunkt den Stock in einen Farbeimer und schreibt an einen Pappkarton die Zahl 120. Jeden Tag verdient er mit dem Verkauf der Plaste,der gebrauchten Feuerlöscher, Schüsseln und Drähte 120 Yuan. Hinter der baufälligen Hütte, auf deren Flachdach zwischen kaputten Ziegeln, Blechen und Steinen ein ausgedienter Warmwasseraufbereiter, ein zerlöcherter Radarschirm und die Überbleibsel einer Air Condition von besseren Zeiten zeugen, zeigt er mir ein Bettgestell mit Schaumstoffauflage. Dort schläft er nachts, um den Müll vor Dieben zu schützen.
Er lacht immer noch, und ich versuche ihm zu glauben.
Vor einem der Mauergemälde, auf dem eine fröhliche Frau zu sehen ist, die an einem Straßenrand wachsende Blumen gießt, frittiert ein dick eingemummelter Mann, der sein Fahrrad zu einem mobilen Grill umgebaut hat, über einem offenen Feuer in einem mit Öl gefüllten Topf Würste und Teigstücke. Das Öl stinkt ranzig, und im Umkreis von einigen Metern wächst auf dem fettigen Boden kein einziger Grashalm mehr.
Der »Grillstation« gegenüber
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