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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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samt Bahnhof aus dem Boden gestampft, genauer gesagt oberirdisch auf mächtigen Pfeilern verlegt. Vor den Olympischen Spielen existierten in Peking 700 Kilometer U-Bahn-Netz. Seitdem sind rund 2800 dazugekommen.
    Als wir durch eine scheinbar endlose Fläche fahren, auf der nur noch Abrisssteine, Balken und Schutt als Zeugnisse früherer Bebauung herumliegen, zeigen Klaus und Monika immer wieder nach draußen: »Hier standen vor 6 Wochen die Gemüseläden, hier die kleinen Restaurants, hier die Reparaturwerkstätten …« Und fassungslos: »Nichts mehr davon, nichts mehr.« Auch von den Dörfern ist keine Hütte stehengeblieben.
    »Auf die freien Flächen wird man vielleicht fünfzig 18- oder 20-stöckige Hochhäuser hinsetzen«, sagt Klaus. »Doch schon zwei davon würden reichen, um den Leuten aus den abgerissenen Dörfern wieder ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Und für jede Familie fließend Wasser. Und für jede Familie eine eigene Toilette.«
    Nur an einer Stelle der Brache steigt noch dicker grau-grün-gelber Rauch auf. Er gelangt als beißender Gestank durch die Heizungsluft in das Auto und lässt uns husten. Ein Mann verbrennt nicht mehr zu verkaufende Abfälle.
    Kaum sind wir an der Abrissfläche vorbeigefahren, auf der das Unkraut noch keine Zeit hatte, sich auszubreiten, tauchen an der linken Straßenseite niedrige, langgestreckte, in der Sonne strahlend bunte Häuschen auf. Ihre Giebeldächer sind mit blauen, gelben und roten Streifen und die verschiedenenfarbigenWände mit Zeichnungen verschönt. Die Häuschen erscheinen mir in dieser Welt so unwirklich, als ob ein freundlicher Riese sie aus einem Steinbaukasten seiner Kindheit zusammengesetzt oder Pippi Langstrumpf sie angemalt hätte. Die filigranen Flügel des Eisentores ähneln denen eines Märchenschlosses, sie stehen weit offen.
    »Das ist ein Dorf, in dem Kinder von inhaftierten oder schon hingerichteten Verbrechern aufgenommen werden«, sagt Klaus. Wir könnten es von außen fotografieren.
    Ich möchte hineingehen und bitte ihn, zu dolmetschen, wenn ich mit den Kindern und den Leitern sprechen darf. Er sagt: »Ich arbeite in China eigentlich nicht als Dolmetscher!« Dann steigen wir aus.
    Hinter dem Tor sitzen zwei Mädchen und ein Junge auf den Treppenstufen. Die Mädchen, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, tragen weite Pumphosen, eine in Grün, die andere in Blau. Und dazu bunte wollene Pullover. Der Junge hat Jeans und eine tarnfarbene Militärjacke an. Sie schieben dominoähnliche Holzsteine auf der Treppe hin und her und zeigen uns ganz selbstverständlich mit einer Handbewegung die Richtung: immer geradeaus. Klaus fragt sie nach der Direktion. Da sagt der Junge, ohne aufzuschauen: »Madame Zhang ist nicht hier.« Eines der Mädchen weist ihn zurecht. Er steht auf, nimmt Haltung an und wiederholt sehr laut und deutlich: »Madame Zhang ist nicht hier.« Aber Herr Gao Feng wäre im Dorf.
    Während die zwei Mädchen loslaufen, um Herrn Gao Feng zu suchen, gehen wir zwischen den Häuschen bis zu einem großen betonierten Platz. Ich vermute, dass es der Appellplatz ist. Aber wahrscheinlich wird dort in der nächsten Zeit niemand zu einem Appell antreten, denn die Fläche von bestimmt 1500 Quadratmetern ist bis zum Rand mit Maiskolben belegt. Dahinter schieben 5 Jungen einen mit Kohlköpfen beladenen Wagen, füllen den Kohl in Körbe und schleppen sie in ein Lagerhaus. Mädchen tragen Melonen. Auf einem Tram polin hüpfen kleine Kinder. An einem Häuschen lese ich auf Deutsch: »Haus der deutschen Mütter«. Wir gehen hinein. In dem Vorraum stehen in einem Regal Schuhe und Stiefel in Reih und Glied. In den Zimmern dagegen liegt alles, meine Mutter würde sagen, wie Kraut und Rüben durcheinander. Auf den Doppelstockbetten stapeln sich zusammengewickelte Decken, Hosen und Jacken zuhauf, und unter den Betten stehen Eimer zwischen Pappkartons, und an der Wand lehnt die Gitarre neben dem Ventilator und zwei Feuerlöschern.

    Im Heim der »Mörderkinder«
    Die Mädchen haben Herrn Gao Feng gefunden.
    Er ist bullig, hat kleine schmale Lippen im fülligen Gesicht, und die steile hohe Stirn bleibt bis zur Mitte des Kopfes kahl. Lächelnd begrüßt er uns auf Englisch und betont, dass er diese Sprache noch nicht gut und noch nicht lange spricht. Er hat Englisch gelernt, um seinem Sohn zu helfen.
    Das Modernste im Büro von Herrn Gao Feng ist ein Computer, der auf einem sehr alten Schreibtisch steht. Die Regale sind schief, und der Stuhl, auf den ich mich

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