Madame Zhou und der Fahrradfriseur
setze, ist sehr wacklig.Auf dem Fensterbrett liegen Orangenschalen. Ich frage, ob er sie zu Tee trocknet. »Nein, der Duft der Schalen verbessert die Luft. In unseren Häusern gibt es keine Klimaanlage.«
Sparsamkeit heißt das erste Gebot in den mittlerweile 7 chinesischen »Sonnendörfern« (auf Chinesisch »Taiyangcun«), in denen über 500 Kinder betreut werden. »Natürlich ist das nur ein Bruchteil, aber viele Kinder der vielleicht 1,5 Millionen Inhaftierten sind von ihren Verwandten aufgenommen worden.«
»1,5 Millionen sitzen in chinesischen Gefängnissen?«, frage ich erstaunt.
Herr Gao Feng sagt: »Das sind nicht mehr als 0,12 Prozent der chinesischen Bevölkerung.«
In Deutschland gibt es nach seiner Information 63 000 Häftlinge, also 0,09 Prozent der deutschen Bevölkerung. Aber in den USA wären 2,5 Millionen Menschen (rund 1 Prozent der Bevölkerung) inhaftiert. Die amerikanischen Verhältnisse auf China hochgerechnet, müssten in China statt der 1,5 Millionen 13 Millionen im Gefängnis sitzen.
»Als Ausländer sollte man sich bei der auf Zahlen basierenden Analyse von chinesischen Zuständen zuerst über diese Dimension klarwerden«, sagt Herr Gao Feng.
Gao Feng war Oberst bei den Panzertruppen der Chinesischen Volksbefreiungsarmee. Inzwischen ist er Oberst im Ruhestand. Und weil er mit seinem Sohn Englisch lernte, kaufte er während der Olympischen Spiele die englischsprachige Tageszeitung »China Daily«. Darin las er von Frau Zhang, die in Peking und anderen chinesischen Städten Heime für Kinder von Inhaftierten gegründet hatte. Und weil er nur 70 km von Peking entfernt wohnt und dachte, dass er mit 40 im Ruhestand noch nicht ausruhen sollte, bewarb er sich bei Frau Zhang.
»Obwohl meine Eltern mir den Namen Feng – hoher Berg – gaben, bin ich zu klein geraten: nicht einmal 160 Zentimeter groß, und die Arme auch zu kurz. Das war zwar gut in dem engen Panzer, aber schlecht für eine Autoritätsperson zur Erziehung von Straßenkindern. Mein 12jähriger Sohn überragt mich schon jetzt um einen Kopf.«
Im Speisesaal
Doch seine Entscheidung, im Sonnendorf zu helfen, sei trotzdem richtig gewesen. Als ehemaliger Oberst erhält er außer der Sozialversicherung noch 85 Prozent seiner früheren Bezüge. »Der Staat sorgt für das Militär. Deshalb muss ich für meine Tätigkeit im Kinderdorf nur das Fahrgeld verlangen. Die anderen Mitarbeiter erhalten 600 Yuan im Monat. Die reichen nicht einmal, um die Sozialversicherung zu bezahlen.«
Er geht mit uns zuerst in den Speisesaal, der einer Bildergalerie gleicht, denn an einer Wand hängen Porträtfotos aller 99 Mädchen und Jungen, die im Dorf leben. Stolz will er uns auch in das »Haus der deutschen Mütter« führen, das mit deutschen Spenden gebaut worden ist, warnt uns aber, dass es innen, was die Ordnung betrifft, nicht deutsch aussieht, denn dort wohnen 12 Jungen. Wir erzählen, dass wir es schon gesehen haben.
Im Turnsaal ist – wie in einem Ballettraum – ein großerSpiegel angebracht. Er hat an vielen Stellen schon Sprünge. »Aber die Mädchen üben davor fast täglich die Tänze für das Neujahrsfest.«
Auf einem großen Foto ist eine Frau abgebildet, die zwar nicht wie eine Sportlerin aussieht, aber in stolzer Haltung sehr aufrecht eine brennende Fackel trägt und mit weit ausholenden Schritten läuft.
»Das ist unsere Direktorin Frau Zhang Shuqin, die Gründerin der Sonnendörfer. Sie gehörte zu den von Partei und Regierung ausgesuchten ehrenvollen Personen, die das olympische Feuer auf dem Weg durch China tragen durften.«
Dann versucht er uns auf Chinesisch und Englisch klarzumachen, dass diese Ehrung ungewöhnlich war, denn Frau Zhang hatte mit den Dörfern für Kinder von Inhaftierten sozusagen gegen Partei und Regierung opponiert.
»Der Staat und die Partei haben in China nur die Pflicht, sich um Versehrte, Verwundete und Helden der Nation zu kümmern. Und weil die Partei alles Nötige im Land reguliert, fasst sie jede nicht angeordnete Aktion, jede private Bürgerinitiative als Einmischung und Bedrohung auf. Frau Zhang, eine Mitarbeiterin der Gefängnisverwaltung, stand plötzlich in Opposition zum Staat, ohne allerdings zu einer Oppositionellen zu werden.« Herr Gao Feng meint, dass einer, der mit seinen Initiativen in Opposition zum Staat steht, die Ideen selbstlos nach innen durchsetzt. Ein Oppositioneller dagegen versucht von außen wahrgenommen zu werden, beispielsweise von europäischen und amerikanischen
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