Madame Zhou und der Fahrradfriseur
mit dem Kind telefonieren. Er wurde zum »Tod mit zwei Jahren Bewährung«, also eventuell Umwandlung in lebenslänglich, verurteilt. (Durch ein neues Gesetz sollen die Delikte für die Todesstrafe in China von 68 auf 55 reduziert werden.) Sein erster Satz am Telefon: »Mein Sohn, wir werden uns bald wiedersehen.«
Auf den Fotos weinen die Kinder nicht. »Das tun sie nur nachts in ihren Betten.« Um 21.30 Uhr ist für alle im Heim der Tag zu Ende.
Auch die Königin von Schweden hat das Kinderdorf schon besucht. Aber inkognito. Erst später erfuhr Frau Zhang, dass sie hier gewesen war. Herr Gao Feng weiß nicht, ob sie anschließend königliches Geld für das Heim überweisen ließ.
»Der Aufenthalt kostet im Monat für jedes Kind 35 Euro, aber wie gesagt: Der Staat zahlt nichts. Wir sind froh, wenn die Zusammenarbeit so klappt, dass uns die Polizei auf der Straße oder vor Gefängnissen aufgelesene Kinder übergibt.«
Inzwischen sind alle Kinder vom Feld zurück, haben den Kohl abgeladen und das Unkraut zwischen den Obstbäumchen im Dorf gejätet. An jedem dieser Bäume hängt ein Herz mit dem Namen des Stifters. 50 Yuan muss man für seinen Baum bezahlen.
Es ist nicht einfach, die Chinesen zu Spenden zu bewegen, sagt der Oberst a. D. Immer noch klingen vielen die Sprüche von Mao in den Ohren, dass der Sohn eines fleißigen Vaters ein fleißiger Sohn wird und der Sohn eines Helden selbst ein Held, aber der Sohn eines faulen armen Tunichtguts ein fauler armer Tunichtgut wird. »Diesen Kreislauf kann man nicht durchbrechen, er ist ebenso naturgegeben, wie die Chinesen sagen, dass eine Katzenmutter keine Hunde gebären kann. Weshalb sollte man Kindern von Mördern, die wieder Mörder werden, helfen? Aber inzwischen gibt es auch in China Unternehmer, die Millionen Dollar besitzen und die wie inden USA manchmal für soziale und kulturelle Zwecke spenden.«
Privat geht heute schon vor Sozialismus.
Im Empfangsraum schauen sich mittlerweile Besucher die ausgelegten Alben mit den Fotos aller Kinder an. Sie können sich ein Kind, das ihnen gefällt, aussuchen, mit ihm sprechen und ihm Sachen oder Geld schenken.
»Doch das Geld dürfen die Kinder nicht für sich behalten. Es wird an alle, auch an die von Besuchern weniger bevorzugten Kinder, verteilt. Unter Führung der Kommunistischen Partei gibt es, zumindest bei der Verteilung der Spenden, immer noch eine Art von Sozialismus in China … Oder eine Wiederauferstehung von Konfuzius«, philosophiert Herr Gao Feng.
Der nach Maos Tod wieder zu Ehren gekommene Gelehrte habe den Chinesen schon 500 Jahre vor Christi beigebracht, wie sie sowohl im Kleinen als auch im Großen zusammenleben müssen: »Sie sollen sich gegenseitig helfen, aber sie müssen dabei bedingungslos den Gesetzen und Strukturen der Macht gehorchen. Hier im Dorf helfen wir den Kindern von zum Tode Verurteilten und Hingerichteten. Doch wenn Sie mich fragen, ob ich dafür bin, die Todesstrafe in China abzuschaffen, antworte ich: Man soll sie beibehalten! Wie könnte unser 1,3 Milliarden großes Volk sonst vor der Gesetzlosigkeit bewahrt werden? Nur wenn Mörder, Drogenhändler, Vergewaltiger und andere Verbrecher wissen, dass sie für ihre Taten hingerichtet werden.«
»Ist auch Frau Zhang für die Todesstrafe?«, frage ich.
Er nickt.
Am Informationsstand kaufe ich für 20 Euro ein Bild mit zwei Dschunken. Die Kinder haben es aus Bambusfäden zusammengesetzt und eine farbenfrohe fünfblättrige Sonne – das Symbol des »Sun-Village«-Kinderdorfes – auf den Himmel gestickt.
Als wir durch das schmiedeeiserne Tor hinausgehen undich immer noch über die Ansicht von Frau Zhang und Herrn Gao Feng, dass die Todesstrafe in China nicht abgeschafft werden soll, nachdenke, wiederholt Klaus: »Mit der Zeit wirst du alles begreifen.«
(Das Bild der Kinder aus dem Sonnendorf hängt heute im Wohnzimmer. Kunstsinnige Besucher betrachten es nur kurz und denken – ohne dass sie es aussprechen –, dass ich billigen Erinnerungskitsch liebe. Manchen erzähle ich dann vom Dorf der »Mörderkinder«.)
Je weiter wir aus Peking hinausfahren, umso deutlicher verfärbt sich der graue smokverhangene Himmel zu einem kalten hellen Blau und umso frischer wird die Luft. Nur 50 Kilometer vom Zentrum der Stadt entfernt, erheben sich die Berge, die wie ein Damm verhindern, dass die klare Luft des Nordens in die Millionenstadt hineinströmen kann. Als wir an den Silbernen Pagoden aussteigen, die vor 300 Jahren vor und in die
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