Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
Vom Netzwerk:
Freunde. Wenn ich zurückgehe, werde ich alles vermissen: die freundlichen Menschen hier, das gute Essen, meine neuen Freunde, die Schule, mein ganzes Umfeld, die Läden. Eben einfach alles! China ist so ein tolles Land. Ich ziehe im Sommer mit meinen Eltern wieder zurück. Aber ich gehe nicht »zurück nach Hause«, sondern von zu Hause weg. Hier bin ich zu Hause.

    »Reiny«, Berufswunsch: Grafikdesigner
    Ich bin 19 Jahre alt und bin in der 10b der Deutschen Schule in Peking. Ich habe einige Klassen wiederholen müssen, weil ich mit meinen Eltern sehr oft umhergereist bin und damit auch oft die Schule wechseln musste. Außerdem ist Deutsch nicht meine Muttersprache. Mein Traumberuf wäre eigentlich, ein berühmter Rockstar zu werden, aber das ist ziemlich unrealistisch. Ich möchte in der Welt etwas tun, was ich mag, und dann will ich das gut und ehrlich machen. Ich möchte auch genug Geld verdienen,
um eine kleine Familie zu ernähren und eine Frau zu haben, die ich liebe.
    Ich würde auch in Peking leben wollen, weil ich noch zu wenig weiß über dieses Land und wie die Menschen hier leben. Dazu reicht nicht das, was man in der Schule lernt. Dort erfährt man im Politikunterricht höchstens, dass die Menschenrechte in China nicht eingehalten werden.

Der Abt
    ODER:
    Fen shou de shi hou wo ba shou fang zai xiong qian – Beim Abschied lege ich die Hand auf mein Herz
    Schon eine Viertelstunde vor der vereinbarten Frühstückszeit warte ich allein am Hotelempfang. Der Herr hinter dem Tresen telefoniert, und sogleich erscheinen zwei junge Frauen, die mir, indem sie Essbewegungen simulieren und mich sanft vorwärtsschieben, den Weg zum Restaurant weisen. Es ist noch menschenleer. Am Eingang steht ein mit mehreren Kubikmetern Wasser gefülltes Aquarium, in dem Hunderte Goldfische schwimmen. Ich schaue zuerst hinein und dann hindurch und sehe schemenhaft Tempelsäulen, Drachenmasken, rote und goldene Lampions, Palmengewächse, zwei große Lautsprecher und ganz vorn ein mit verschiedenfarbig leuchtenden Lämpchen illuminiertes Buffet. Die Frauen lotsen mich am Aquarium vorbei, drücken mir ein Tablett mit Tassen, Schälchen und Stäbchen in die Hand und zeigen, indem sie die Speisefront wie eine angetretene Gruppe von Kindern abschreiten, die Köstlichkeiten für den Morgen: rotes Krebsfleisch, grüne Spinatblätter, braune ungefähr 3 Monate roh eingegrabene, sogenannte tausendjährige Eier, weiße Shrimps, blaue gebackene Auberginen, dazu Milchsuppen mit Reis und Nudeln …
    Ich mag nicht mutterseelenallein essen und gehe, obwohl die zwei Frauen protestieren, wieder aus dem Goldfisch-Frühstücks-Restaurant hinaus. Vor dem Hotel laufe ich die von Säulen, blühenden Sträuchern und Drachenfiguren gesäumte Eingangsstraße bis zum Torbogen, an dem das Gebäude des tempelähnlichen Hotels endet. Dahinter beginnt der chinesische Alltag mit kleinen Läden, Buffets, Lastenfahrrädern und Mopeds. Am Torbogen liegen zwischen den Fabelfiguren wie Fremdkörper wirkende unbehauene Felssteine. Auch vor den meisten Häusern an der Straße entdecke ich diese Steinbrocken. Herr Wu Ming, der mich inzwischen sucht, weiß, dass die Steine aus dem Felsen des heiligen Tai-Shan-Berges gebrochen worden sind. Auf einer 9 Kilometer langen Treppe mit fast 6300 Stufen kann man an unzähligen kleinen Pagoden und Tempeln vorbei bis zum Jade-Gipfel des Berges hinaufsteigen. »Wir leider nicht, denn weil Sie eher abreisen wollen, fehlt uns die Zeit!«
    Der Berg gehört zu den 5 heiligen Bergen und ist der östlichste Eck-Berg des Reiches der Mitte. »Jährlich besuchen ihn rund 6 Millionen Menschen, zünden in seinen Tempeln Räucherstäbchen an und trinken von seinem heiligen Wasser.«
    »Und die Steine?«, frage ich.
    »Die holen sich die Bauern seit Jahrhunderten vom heiligen Berg und legen sie als Wächter gegen alles Unheil vor ihre Häuser. Zu Maos Zeiten war das verboten. Aber nach den Reformen von Deng Xiaoping im Jahre 1983 wurden die taoistischen heiligen Felssteine wieder die Hüter der Häuser rund um den Tai-Shan-Berg.«
    Allerdings ist es den Bewohnern inzwischen verboten, sich wie früher Steine aus dem Berg zu brechen. »Auch die heiligen Wächter werden heute verkauft!«
    Beim Frühstück sagt mir Kuni, die zuvor sehr lange und so interessiert, als spräche sie mit ihnen, die Goldfische im Aquarium beobachtet hat, dass die goldenen Fische die Kinderder Drachen sind. Gleich nach dem Frühstück fahren wir zu dem taoistischen Abt.

Weitere Kostenlose Bücher