Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Herr Wu Ming, der in der Nacht ein Gedicht »für eine gute Bekannte, die Alkoholikerin war und der ich Mut machen möchte, nie mehr zu trinken«, geschrieben hat, sagt: »Wir Besucher kommen im Auto. Der Abt selbst besitzt nur ein Fahrrad.«
Der Abt läuft uns auf dem Hof des Tempels bereits entgegen, als hätte er die Zeit der Ankunft vorausgeahnt, und überfällt uns zur Begrüßung mit einem lauten, minutenlangen Redeschwall. Kuni fasst für mich alles in einem Satz zusammen. »Der Herr Abt Huo Huaxu freut sich über unseren Besuch an der heiligen Stätte des Taoismus.«
Danach führt uns der Abt durch eine Baustelle, auf der 5 Männer die heilige Stätte vergrößern. Originalgetreu rekonstruieren sie mit dicken Rundhölzern und passgenau geschnittenen Vierkantbalken alte Gebäude und setzen Säulen, die ohne Verstrebungen die Dächer tragen werden. Nur wenige Handwerker beherrschen diese Technik noch, erklärt der Abt. Rund 4 Millionen Yuan kostet die Rekonstruktion.
Ohne dass ich ihn fragen muss, was ich fragen wollte, erzählt der Abt wieder sehr laut und zwischendurch nur sehr kurz Atem holend, dass der Staat für die taoistische heilige Stätte kein Geld ausgibt. »Wir müssen uns selbst erhalten.« Besucher spenden Geld, und seine Schüler bringen Lebensmittel. Außerdem kostet der Besuch der Tempel des heiligen Berges zwischen 20 und 50 Yuan. Die Mönche verkaufen Räucherstäbchen und Souvenirs und holen von den Quellen des Berges das heilige Wasser, tragen es in Eimern hinunter und verkaufen es für 2 Yuan pro Kessel.
Der Abt ist in Eile. Weil er uns alles zeigen will, lässt er uns keine Zeit, damit die Augen in Ruhe das Unbekannte des heiligen Ortes erkunden können. Nur vor einem Baum, an dem rote Schleifen und viele kleine Schlösser ohne Schlüssel hängen, bleibt er einen Moment stehen. »Nach einer alten chinesischenTradition hängen junge Paare Schlösser auf, werfen die Schlüssel weg und wünschen sich, dass sie durch ihre Liebe immer verbunden bleiben wie durch ein schlüsselloses Schloss.« Wir gehen schnell weiter, der Abt redet und redet und rennt, und ohne Vorwarnung stehen wir vor dem Tempel, der seinerzeit nur der kaiserlichen Familie vorbehalten war. Der Abt drückt mir Räucherstäbchen, die nicht größer als Wunderkerzen sind und die er schon angezündet hat, in die Hand und bedeutet mir, sie in eine mit Sand gefüllte Holzschale zu stecken. Ich mache es falsch, weil ich die Stäbchen – als gelehriger Schüler des Taoismus an Harmonie denkend – zusammenfasse und alle auf einmal in die Schale stecke. Der Abt zieht sie noch einmal heraus und gibt sie mir wieder in die Hand, damit ich sie einzeln und jeweils an einen Menschen denkend, opfere. Der Gott, vor dem ich mich danach kniend und mit Händen und Kopf die Erde berührend, verbeugen soll, ist kein dicker Buddha, sondern eine goldglänzende frauenähnliche Phantasiefigur. Kuni übersetzt sehr andächtig: »Es ist die alte Oma des Taoismus.« Ich verneige mich, halte aber die Hände nicht vor dem Kopf. Der Abt lässt es den Mönch, der danebensteht und nach jeder Verbeugung einen Gong anschlägt, vormachen. Ich verneige mich, nicht auf mein Kreuz achtend, sehr tief. Und der Mönch schlägt jedes Mal, wenn ich mich aufrichte und die Gottheit anschaue, melodisch den Gong. Drei Mal. Am Ende der Zeremonie nimmt der Abt eine Apfelsine aus dem Korb, der zu Füßen der göttlichen Figur steht, und reicht sie mir mit beiden Händen.
Zur Besinnung komme ich erst, als wir im großen Besucherraum des Abtes sitzen. An den Wänden hängen Fotos von den Mitgliedern der ehrwürdigen taoistischen Gesellschaft. Außerdem auf Seide oder Papierbahnen kunstvoll gemalte kalligraphische Schriftzeichen und zarte Tuschgemälde, auf denen der heilige Berg nicht wie in Wirklichkeit felsig dunkel, sondern in hellen Farben glitzernd abgebildet ist.
Die thronähnlichen Stühle sind von den Füßen bis zur Lehne kunstvoll geschnitzt. Obwohl sie sehr stabil aussehen, setze ich mich nur vorsichtig auf die Vorderkante. Im Raum befinden sich außerdem ein Fernseher, der ausgeschaltet ist, und eine bis zur Decke reichende weiß emaillierte Klimaanlage, deren Temperatur der Abt, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen, ständig reguliert. In der Mitte des Raumes deckt ein Mönch einen runden Tisch, auf dem ansonsten, wie der Abt sagt, Opfergaben liegen, mit Gemüse, Fleisch und anderen Speisen. Neben dem Eingang steht ein Kessel mit Wasser vom heiligen Berg.
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