Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Leben lang dieselben Muskeln und Gelenke mit den immer selben Bewegungsabläufen. Und seine Augen schauen immer nur starr und angestrengt nach vorn. Beim Rückwärtsgehen können sich die sonst arbeitenden Beinmuskeln erholen und die normalerweise nicht gebrauchten müssen sich anstrengen. Kranke Gelenke und Sehnen schmerzen dabei nicht. Außerdem können die Sinne alles neu erfassen. »Und wenn es dannwieder vorwärtsgeht, sind sie umso empfindsamer und aufmerksamer.«
Das verstehe ich.
»Und die Bäume umarmen?«
Der Heiler fragt, ob ich als Kind im Spiel mit anderen Kindern nicht schon hilfesuchend einen Baumstamm umarmt hätte?
Ich versuche mich zu erinnern und nicke.
»Der Baum gibt bei der Umarmung Energie an den Menschen ab. Der Ahorn hilft gegen Schmerz, die Eiche beruhigt, und die Birke ermutigt den Menschen, schwierige, unangenehme Probleme zu bewältigen.«
Immer würde es darum gehen, Energie zu erhalten und so wenig Lebensenergie wie möglich abzugeben. Er schaut Kuni an, erklärt ihr etwas, sie errötet ein wenig, dann übersetzt sie, dass der Heiler auch Verschwendung von sexueller Energie dazu zählt. Sexuelle Aktivität verjünge den Menschen, sie sei wichtig, aber der Mann solle auf die ihn schwächende Erfüllung des Liebesaktes verzichten. Der Heiler winkt lachend ab. Kuni sagt etwas von »Tantra« und dass ich besser im Internet darüber nachlesen soll.
Ich frage Liu Junbo, wie viel Kinder er hat.
»Nur eine Tochter.«
Und er werde auch nicht gegen das Gesetz verstoßen und ein zweites Kind zeugen.
»Das Glück oder Unglück, das Gute oder das Schlechte im Leben der Eltern hängt – außer in Afrika, wo viele Kinder durch ihre Arbeit die Eltern ernähren müssen – nicht von der Zahl der Kinder ab. Wenn das eine Kind, das der chinesische Staat uns erlaubt, gut erzogen ist, wird dieses eine Kind viel mehr für die Eltern sorgen, als drei oder vier schlecht erzogene.«
Außerdem hat das Gesetz der Ein-Kind-Ehe bewirkt, dass seit seiner Einführung das chinesische Volk nicht auf kaumzu ernährende 1,7 Milliarden, sondern nur auf 1,3 Milliarden Menschen angewachsen ist.
Ich frage, ob er die Familie mit seinem Verdienst als Heiler ernähren kann.
»Meine Frau unterrichtet Elektronik. Und ich arbeite noch nicht als professioneller Heiler. Ich behandle nur die Geschäftspartner meines Freundes, des Unternehmers Xuan Jiaguo. Wenn ich sie gut massiere, kann er seine Kunden auch dadurch behalten.«
»Was ist für Sie ein guter Tag, Herr Liu Junbo?«
»Ein guter Tag? Wenn ich der Beste bin. Bei der Arbeit oder für meine Frau oder für mein Kind oder für meine Patienten. Ich wollte schon in der Schule und auf der Universität immer der Beste sein.«
»Und ein schlechter Tag?«
»Wenn ich auf der Straße anderen Frauen hinterherschaue und meine Frau mich deshalb beschimpft.«
»Und was würden Sie China wünschen?«
»Dass die Regierung es jedermann an jedem Ort in China weiterhin erlaubt, so viel Geld, wie es ihm möglich ist, zu verdienen.«
»Und was wünschen Sie für sich?«
»Ein internationales, vielleicht sogar in Deutschland, anerkanntes medizinisches Unternehmen mit Praxen der Traditionellen Chinesischen Medizin zu gründen. Und trotz der damit verbundenen großen Arbeit und der Verantwortung ein sittlicher, nach den Regeln von Konfuzius und Laotse lebender Mensch zu bleiben.«
Am Ende unseres Gespräches verspricht er Kuni, die ihm von ihren Schulterschmerzen erzählt hat, morgen noch einmal in das Hotel zu kommen und sie mit seinen Schröpfkegeln zu behandeln. Ich wollte nicht aufdringlich sein und habe ihm kein Wort von meiner schmerzhaften Arthrose in den Armgelenken erzählt. Aber anscheinend ist mein Yinund Yang nicht im Gleichgewicht, denn mir fehlt der Mut, unangenehme Bitten zu äußern. Ich könnte das ändern, indem ich einen Birkenstamm umarme. Oder öfter rückwärtsgehe, um dann schneller vorwärtszukommen.
(Notwendige Ergänzung: Nach meiner Rückkehr aus China habe ich zwar nicht mehr Fleisch als zuvor gegessen, auch keine Bäume umarmt, mich aber sehr oft im Rückwärtsgehen geübt.)
SPICKZETTEL (7)
Paula H., Berufswunsch: Journalistin oder Ärztin
Ein guter Tag ist der Tag, an dem der Himmel über Peking nicht grau, sondern entweder sonnig blau oder bewölkt ist. Aber meistens ist er grau.
Von Deutschland vermisse ich hier nichts, weil ich aus der Schweiz komme. Aber auch die Schweiz vermisse ich in China nicht. Nur meine Großeltern und meine alten
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