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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Redakteuren: »Wir möchten zuerst ohne Fernsehen miteinander reden.«
    Sie warten auf dem Gang.
    Im Zimmer setzt er sich mir gegenüber und fragt, wie alt ich bin.
    »Und in welchem Monat werden Sie 70?«, will er wissen.
    »Im April.«
    »Und haben Sie im Sozialismus gelebt?«
    Als ich nicke, verkündet er: »Ich bin 8 Monate jünger als Sie.«
    Er steht auf, umarmt mich heftig, und ich merke am starren Blick von Herrn Wu Ming und dem Staunen von Kuni, dass diese Art von Gefühlsausbrüchen in China ungewöhnlich ist.
    »Dann bist du mein Ge Ge, älterer Bruder, und ich dein Di Di, jüngerer Bruder.« Und er versichert mir, dass er nicht wegen der Karriere, sondern aus Überzeugung Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas geworden ist. »Und nun bin ich schon sehr alt, so alt, dass ich immer die Wahrheit sagen möchte. Doch zu oft glaubt man irrtümlich, dass die eigene Meinung gleichzeitig auch die Wahrheit aller sein muss.«
    Als alter Mensch sollte man nichts mehr nehmen, sondern nur anderen Menschen weitergeben, was man im Leben an Wissen erworben hat.
    »Man braucht nach der Geburt nur ein Jahr, um das Leben zu erlernen. Doch dann braucht man ein ganzes Leben, um das Sterben zu begreifen. Wenn man geboren wird, bekommt man den Schlüssel zur Hölle in die Hand gedrückt. Doch im Leben möchte man mit diesem Schlüssel nur das Paradies für sich aufschließen.«
    Nach seinen ersten philosophischen Sätzen fühle ich mich nicht wie der ältere, sondern der jüngere Bruder. Herr Wu Ming erklärt, dass Sang Hengchang in China 12 Bände mit Gedichten veröffentlicht hat und sowohl Mitglied des Schriftstellerverbandes als auch stellvertretender Generalsekretär der chinesischen Lyrikervereinigung ist.
    Nachdem »mein kleiner Bruder« die Fernsehleute ins Zimmer gebeten hat, rücken sie ihn vor der Kamera zurecht, er streicht sich die grauen, an der Seite gescheitelten Haare glatt, und ich kann mir sein Gesicht genauer betrachten. Und nun fällt mir auf, dass seine sehr freundlichen, fast liebevoll blickenden Augen müde aussehen und von tiefen Ringen gerahmt sind.
    Einer der Fernsehleute brüht Tee und schlägt vor, dass ich Herrn Sang Hengchang zu seinen Lebensstationen befrage. Aber ich muss nichts fragen. Als die Kamera läuft und das Mikrofongeöffnet ist, erzählt der Poet, ohne dass er aufgefordert werden muss, sehr präzise und dokumentarisch genau.
    »Ich bin 1941 in einem Dorf der Provinz Shandong geboren. Mein Vater war ein Bauer und ich der ältere von zwei Söhnen. Die Mutter starb, als ich 12 Jahre alt war, der Vater heiratete wieder und zeugte mit der neuen Frau noch zwei Söhne. Wir waren sehr arm. Mein Vater konnte mir weder Geld noch Gut für das Leben mitgeben. Er hatte nur einen Rat: ›Mein Sohn, sei immer fleißig und lerne so viel wie möglich!‹ 1949 begann für China und auch für mich ein neuer Lebensabschnitt. China wurde eine von den Kommunisten regierte Volksrepublik, und ich durfte – wenn auch mit Verspätung – nun mit anderen Bauernkindern eine Schule besuchen. Damals mussten die Eltern nicht wie heute Schulgeld für das Gymnasium bezahlen, und ich konnte 1961 das Abitur ablegen. Danach studierte ich 6 Jahre an der Militäruniversität Radartechnik und Flugabwehr.« Er stockt und sagt lächelnd: »Im Jahr 1961 habe ich auch mein erstes Gedicht geschrieben.«
    »Ein Liebesgedicht?«, frage ich.
    »Ja, ein Liebesgedicht. Ein Liebesgedicht für Mao. Ich hatte sein Flugzeug, in dem er unterwegs war, auf meinem Radar und musste es Sekunde um Sekunde verfolgen. Das Flugzeug des von mir über alles geliebten großen Führers!«
    »Nach dem Studium konnte jeder Absolvent der Militärwissenschaft aufschreiben, in welcher Stadt oder Provinz er dienen möchte. Ich hatte nur den Wunsch, weit weg von zu Hause zu kommen. Damals war ich neugierig auf die Welt und hatte mir vorgenommen, immer das Allerschwerste zu schaffen. Die Befehlshaber der Luftabwehr schickten mich nach Tibet. Wir fuhren 13 Tage auf Lastkraftwagen bis nach Lasan. Dort befand sich die Basis für die Radarüberwachung. Ich musste bis auf eine Höhe von 5500 Meter steigen, um die einzelnen Stationen zu warten und zu reparieren. 30 Grad Minus und die Luft schon bei 4000 Metern so dünn, dassman fast ohnmächtig wurde. Jede Bewegung geschah im Zeitlupentempo. Um ein Ölfass 20 Meter weit zu schleppen, brauchte ich 20 Minuten. Auch mein Kopf arbeitete wegen des Sauerstoffmangels in der Kälte nur noch wie ein stotternder Motor.

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