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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Stein aus der Erde herausgehoben hat, entsprang dort sofort eine neue Quelle.«
    »Heute nicht mehr?«
    »Seitdem man in der Stadt für Zehntausende Neubauten mit Baggern tiefe Wunden in den Boden reißt, bilden sich keine neuen Quellen mehr.«
    Eine der ältesten Quellen-Landschaften außerhalb der Stadt haben chinesische Gärtner schon vor über tausend Jahren in einen Park mit Tempeln und Teichen, Pavillons und Pagoden verwandelt. Der Eintritt in diesen Baotu Spring Park – inzwischen ein touristischer Wallfahrtsort für Chinesen und Ausländer – kostet 50 Yuan.
    »So viel verdient ein chinesischer Bauer nicht an zwei Tagen«, sagt Kuni.
    Auf fast 11 Hektar sind über 70 Quellen, kleine Seen, Fischteiche, Wandelgänge und Gärten mit Gedenkhallen für bedeutende chinesische Poeten wie die 1084 bis zirka 1151 lebende Dichterin Li Qingzhao zu besichtigen. Aber Kuni bleibt schon an einem der ersten Seen stehen. Seine zahlreichen, aber kleinen Zuflüsse sind an der Oberfläche an den Bläschen zu erkennen. Kuni bückt sich neben 5 Frauen, die auf einem Stein knien, und schaut mit ihnen reglos in die Wassertiefe. Minutenlang verharrt sie wie in einem Gebet.
    Kuni hat Programmiererin gelernt, Germanistik studiert, beim chinesischen Fernsehen gearbeitet, deutsche Touristenund Mittelständler durch China begleitet und Deutschland schon zweimal besucht. Als sie sich vom See abwendet, ahnt sie, was ich fragen möchte, und sagt: »Ich habe zu den Fischen im See, den Kindern der Drachen und den Symbolen für Glück und Reichtum gebetet.« Sie senkt den Blick, schaut zu Boden und sieht so traurig aus, dass ich ihr den Arm um die Schulter lege.
    Sie versucht ein Lächeln. »Gestern ist mein Vater 67 Jahre alt geworden. Ich bin sein einziges Kind. Und mit meinen 32 Jahren hätte ich, wie es in China für eine Frau üblich ist, schon lange verheiratet sein müssen. Denn Heiraten bedeutet, dass ich eine Familie habe und für meine Eltern, die weit entfernt und allein sind, sorgen könnte. Jetzt vermag ich mich nicht um sie zu kümmern. Wenn ich daran denke, geht es mir sehr, sehr schlecht.«
    Deshalb hat sie mit den betenden Frauen am See verweilt.
    Erst als wir zwischen hängenden Weidenzweigen und Wasserbecken aus Marmor- und Felsgestein wandeln, in denen sich Scharen von goldenen, roten und auch weißen Fischen tummeln, lacht sie wieder, weil sich ein Mädchen vor ihr auf die Zehenspitzen stellt und an ihrer Nase »die Schokolade«, den Leberfleck, wegwischen will.
    Vor der stärksten Quelle, die die Wasseroberfläche zu einer Halbkugel formt, bittet Herr Wu Ming eine Bedienerin, Wasser zu schöpfen und Tee für uns zu bereiten. Sie geleitet uns in eines der kleinen Teehäuschen. Wir sitzen auf Kissen und trinken aus winzigen Porzellanschälchen. Der Inhalt der Teekanne ist scheinbar unerschöpflich. Fünfmal gießt die Frau kochendes Wasser auf die Blätter, und jedes Mal vergrößern sie sich, bis sie wieder, wie Kuni sagt, »sie selbst sind«. Herr Wu Ming philosophiert, dass man für den sehr teuren Eintritt allen Besuchern als Souvenir noch eine kunstvoll geformte Flasche mit dem Wasser der Quelle schenken sollte und dass nur die Touristen für den Besuch des Parks bezahlensollten, doch alle Einwohner von Jinan, der Wasserstadt, täglich kostenlos im Park flanieren können müssten. »Wie die alten Menschen, die schon 70 Jahre sind, in den Bussen der Stadt umsonst fahren und Ausstellungen und Parks ohne Eintritt besuchen können.«
    Ich sage, dass ich ein halbes Jahr zu früh hier bin.
    Auch der Dichter Sang Hengchang, den wir am Nachmittag besuchen werden, ist schon sehr alt, ergänzt Herr Wu Ming. Und fragt, ob wir uns mit ihm in meinem Hotelzimmer treffen könnten und ob Fernsehleute aus Jinan das Gespräch für eine Sendung über Poeten der Provinz Shandong aufnehmen dürfen. Ich nicke.
    Als ich im Hotel in meinem Zimmer sitze, erschrecke ich fast zu Tode. Ich höre das Knallen von Schüssen und Detonationen. Dann ziehen Rauchschwaden durch die Gänge.
    Kuni beruhigt mich: »Es wird nur eine Hochzeit gefeiert. Und zu einer chinesischen Hochzeit gehört auch ein Feuerwerk mit Böllerschüssen.«
    »Ein Feuerwerk, das man im Hotel zündet?«
    »Wo sonst? Draußen würde es, weil es viel zu leise wäre, dem Paar kein Glück bringen.«
    Noch bevor sich der Rauch verzogen hat, erscheint der Dichter Sang Hengchang in Begleitung von drei Fernsehleuten. Bei der Begrüßung schaut er mich prüfend an. Danach sagt er den

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