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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Reichtum Chinas, haben nicht die Manager und Politiker, sondern vor allem die Arbeiter, die aus den Dörfern gekommen sind, geschaffen.«
    »Und was wünscht sich mein jüngerer Bruder persönlich?«
    Er stockt. »Mein Vater ist 92 Jahre alt geworden, meine Stiefmutter 90. Und ich bin nicht zuerst stolz auf meine Gedichte, sondern darauf, dass ich für meine Eltern gesorgt und mich bis zu ihrem Tod um sie gekümmert habe. Auch ich werde ruhig sterben, wenn auf meinem Schreibtisch noch ein neues Gedicht liegt. Ein Gedicht, das nach meinem Tod veröffentlich wird und von dem die Leute dann sagen: ›Er hat noch ein schönes Gedicht geschrieben.‹«
    Der Kameramann macht einen Schwenk auf Kunis Gesicht. Dann bringt er ihr eine Tasse Tee, und sie wischt sich mit dem Handrücken verlegen über die Augen.
    Ich frage Sang Hengchang, was er nach seinen zwei Besuchenüber Deutschland und die Deutschen denkt. Statt zu antworten, greift er hinter sich, wo er, was bislang nicht zu sehen war, ein Buch versteckt gehalten hat. »Gedichte vom Gelben Fluss«.
    Verfasser: Sang Hengchang.
    »Darin kannst du lesen, was ich in Deutschland gesehen, gehört, gefühlt und geträumt habe.« (Später lese ich darin von »der Regensaison, die in Deutschland länger ist als die Autobahnen«, von »Weinrülpsern«, von »schönen Burgen und gewaltigen Kirchen«, von dem »betrunkenen Fußball und nüchternen Spielregeln«, von »hier kotzte Goethe« und dem Romantiker Justinus Kerner.)
    Er schreibt in ungelenker lateinischer Schrift in das 160 Seiten dicke Buch, das in Deutschland, so steht es im Impressum, 12,80 Euro, aber in China nicht einmal 2 Euro kostet: »Für Herrn Landolf Scherezer«. Und daneben zeichnet er zweimal die Eins »verkehrt herum«. »Das ist für mich das wichtigste chinesische Schriftzeichen«, sagt der Poet. »Es bedeutet zwei Menschen. Der Mensch darf niemals allein sein.«
    Er verabschiedet die Fernsehleute, danach gehen wir zum Abendessen.
    Ich habe vergessen zu fragen, ob »mein jüngerer Bruder« verheiratet ist, und will es in der großen Runde im Restaurant – eine Opernsängerin, ein kommunaler Politiker und ein Designer sind dazugekommen – nicht nachholen.
    Die chinesische Opernsängerin Li Rui Hua, die früher im Mao-Look und mit kurzen Haaren aufgetreten ist, trägt heute die Haare lang und lockig. Sie singt für uns zuerst Arien aus »Carmen«, danach »Bandiera rossa« und schließlich »Kalinka«. Nach dem Essen schenkt sie mir eine CD, auf der sie auch Schuberts »Forelle« aufgenommen hat.
    Die Bedienerinnen servieren das traditionelle Shandonger »Drei Töpfe«-Gericht: drei gedämpfte ausgehöhlte Teigkugeln, die sich jeder nach Geschmack mit Fleisch, Fisch, Pilzenoder Scampis füllen kann. Herr Wu Ming kennt das Gericht aus seiner Kindheit.
    »Früher waren die Töpfe allerdings nicht mit Fleisch oder Fisch, sondern zu besonders festlichen Anlässen vielleicht mit gedünstetem Spinat oder gebackenen Auberginen gefüllt.«
    Als die Sopranistin eine Pause macht, versucht Herr Wu Ming plötzlich, »Auf den Straßen, auf den Plätzen seh ich Deutschlands Jugend ziehn …« zu singen. Er wiederholt die erste Zeile so lange, bis ich mich erinnere und ihm die richtige Melodie beibringen kann. Das Lied wurde 1973 bei den 10. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin gesungen.
    Der Designer neben mir setzt auch beim Essen die schwarze Schirmmütze nicht ab und knotet den schwarzen Schal über seiner schwarzen Jeansjacke nicht auf. Er redet sehr viel, sehr schnell und sehr laut und wird bald zum Mittelpunkt der Runde. Ihm gehört in China ein Massagesalon, und in Deutschland betreibt er weitere drei. »Deutschland und die Provinz Shandong haben zum gegenseitigen Vorteil einen staatlichen Freundschaftsvertrag abgeschlossen.«
    »Shandong und Deutschland?«, hake ich nach.
    »Ja, Shandong mit Deutschland, mit dem Land Bayern.«
    In Jinan, sagt er, investieren schon 18 Deutsche. Und zur Vorbereitung auf die 11. Chinesischen Sportspiele, die sogenannte China-Olympiade, die alle 4 Jahre stattfindet, hat die Fußball-Mannschaft von Shandong in Bayern trainieren dürfen. »Und wurde danach Sieger hier in Jinan.«
    Diese 11. Sportspiele fanden im Oktober 2009, im 60. Jubiläumsjahr der Gründung der Volksrepublik China, statt. Als Geburtstagsgeschenk der Provinz Shandong an das Mutterland baute man für diese Wettkämpfe in Jinan einen überdimensionalen Sportkomplex. Zwei große Stadien in architektonisch

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