Madame Zhou und der Fahrradfriseur
wenig war Uwe Kräuter in seiner Heidelberger Studentenzeit ein »normaler« BRD-Bürger. Denn Uwe Kräuter, der noch vor dem Studium die Armut und den Hunger der Menschen in Marokko kennengelernt hatte und der den Krieg der USA und ihre Massaker in Vietnam bekämpfte, studierte und verehrte damals Mao und Marx. Er demonstrierte gegen den »amerikanischen Imperialismus«, gegen die Ausbeutung Afrikas. Und gegen den früheren US-Verteidigungsminister McNamara, der 1970 als Chef der Weltbank nach Heidelberg kam. Die jungen Leute, mit denen er damals gegen McNamara protestierte, waren nicht zimperlich. Sie fühlten sich als Kämpfer für eine sozialere Welt immer im Recht. Polizeiketten wurden durchbrochen, Pflastersteine flogen. Und der Heißsporn Uwe Kräuter marschierte in der ersten Reihe … Er wurde mit Gesinnungsgenossen vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) vor Gericht angeklagt. Otto Schily verteidigte die jungen »Revolutionäre« und verlor den Prozess. Uwe Kräuter und die anderen wurden zu 8 Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt. In erster Instanz. Das Urteil in zweiter Instanz – eventuell eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung – wollte Uwe Kräuter nicht abwarten. Sein Professor, der zuvor schon Studenten an den kommunistischen Fachbuchverlag nach Peking delegiert hatte, bot ihm an, nach China zu gehen.
»Mein Bangen und meine Begeisterung hielten sich die Waage. Der Gedanke, dass ich in China, in dem Land, das auch Vietnam im Kampf gegen die USA unterstützt hatte, mithelfen konnte, den Kommunismus aufzubauen, begeisterte mich. Bange war mir nur vor der großen Entfernung von zu Hause.« Aber schon sein Großvater, ein Seemann, hatte von China, von Shanghai geschwärmt. Und weil Uwe Kräuter, der gutesEssen und alten Wein liebte, damals als Alternative zum Gefängnis auch nicht mit RAF-Kämpfern in den Untergrund gehen wollte, flog er im Juni 1974 nach China.
Das alles berichtet Uwe Kräuter erst am Ende des Abends auf konkrete Fragen der Zuhörer. Auch, dass er Maos Tod – dessen ins Deutsche übersetzte Reden er damals redigierte – viele Wochen betrauerte und dass der »Große Führer« im Bewusstsein der Chinesen auch heute noch unzertrennlich mit der Partei verbunden ist und kein Regierungschef das Bild Mao Zedongs zerstören könnte, ohne die Partei zu zerstören.
Am Anfang berichtet er sehr leise und die Worte sorgsam und langsam wählend über die Entstehung seines vorerst nur in Chinesisch erschienenen Buches »Grenzüberschreitung – 35 Jahre in China«.
Er hat seine Jahre in China in Kartons aufbewahrt: Fotos, Reden, Tagebücher, Briefe, Notizen und Artikel. Und als die SARS-Epidemie Peking für Monate lahmlegte, sichtete und sortierte er das Material. Das daraus entstandene Buch wurde sowohl ein Dokument der Entwicklung Chinas, als auch ein Zeugnis seines Lebens.
»Meiner kommunistischen Träume. Meiner Irrungen und Wirrungen.« (Dasselbe sagte Steffen Schindler).
Bei seiner Ankunft 1974 waren die Laowai, die westlichen Ausländer, noch eine bestaunenswerte Attraktion für die Chinesen. »Weil zum Beispiel die BRD die Volksrepublik China 20 Jahre lang nicht anerkannt hatte, kam man damals sozusagen wie ein Botschafter des fremden Landes nach China.«
In einem großen Kaufhaus, in dem sich Uwe Kräuter einen Wecker zeigen ließ, versammelten sich die Chinesen scharenweise um ihn. Sie wollten sehen, wie ein Laowai einen chinesischen Wecker ausprobiert. Der Wecker klingelte, und hundert Chinesen jubelten und klatschten Beifall.
Die Neugier, die Freundlichkeit und die Herzlichkeit hätten sich die Chinesen bis heute erhalten. »Aber das Tempoim Land hat sich verändert. Niemand war damals in Hektik. Ich kaufte mir ein Fahrrad und reihte mich ein in den oft die gesamte Straßenbreite füllenden Fahrradstrom, der sich wie eine friedliche Demonstration langsam vorwärtsbewegte.«
Zuerst konnte sich der deutsche, hitzköpfige 68er nicht mit der Langsamkeit abfinden, die alle Fahrer vereinte. Er versuchte, schneller zu fahren und zu überholen.
»Doch schon bald bewegte auch ich mich mit der gleichen Geschwindigkeit wie die Masse. Diese Langsamkeit gehörte zum Charme des früheren Peking.«
Auch politisch-ideologisch schwamm Uwe Kräuter nicht gegen den Strom. Er schrieb Artikel zum Lobe Maos und der Kommunistischen Partei. Er bekämpfte mit agitatorischen Schriften den USA-Imperialismus und wurde Mitglied im Kommunistischen Bund von Westdeutschland, einer
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