Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Stadt erobert und drei Tage lang geplündert. Waldersee und seine Soldaten blieb danach nur noch der Rachefeldzug. Bis Ende März 1901 ließ er seine Soldaten töten, plündern, vergewaltigen und Dörfer niederbrennen.
China hatte danach Reparationen in Höhe von 1,4 Milliarden Goldmark zu zahlen, es durfte keine Waffen kaufen und einführen, das Gesandtschaftsviertel in Peking musste befestigt werden und die Mitgliedschaft in ausländerfeindlichen Organisationen wurde mit Tod bestraft. Ein Höhepunkt der Demütigung der Chinesen war der Sühneakt für den erschossenen Grafen von Ketteler. Dazu musste Prinz Chun, der Vater des letzten chinesischen Kaisers Puyi, sich in Potsdam bei Kaiser Wilhelm II. kniefällig entschuldigen …
Im Ersten Weltkrieg wurden hunderttausend Chinesen nach England und Frankreich verschifft und hoben dort hinter der Front Panzergräben aus, arbeiteten in Waffenfabriken, räumten Minen und heilten Verwundete in Lazaretten.
1937 begann das mit Hitlerdeutschland verbündete Japan in Nordchina einzufallen und eroberte noch im selben Jahr Peking.
Die ausländische Besetzung Chinas endet 1945.
Steffen Schindler fragt, ob ich eine Bratwurst essen möchte. Nein, ich möchte in China keine Bratwurst essen.
»Auch keine Thüringer?«
»Nein, auch keine Thüringer.«
Steffen Schindler ist, was seine Gefühle betrifft, wahrscheinlich noch kein Chinese. Sonst wäre er, das weiß ich inzwischen von Herrn Wu Ming, zu Tode beleidigt, denn er hat durch meine Ablehnung »sein Gesicht verloren«. Er aber antwortet einfach sehr schnell und knapp auf meine Frage nach seinem guten Tag.
»Ein guter Tag ist, wenn ich mal keine scheiß E-Mail erhalte,die verlangt, dass ich mich um dieses oder jenes Problem kümmern oder es sofort entscheiden soll. Und ich stattdessen über Land fahren und mit den alten Freunden von der Armee reden, trinken und essen kann, also einen Tag lang kein deutscher Unternehmer in China sein muss.«
»Ein beschissener Tag?«
»Wenn mir den lieben langen Tag nur unnütze, blöde Fragen gestellt werden, die jeder andere auch beantworten kann. Zum Beispiel, wie man die Sonnenschirme für das Restaurant transportieren soll. Ob zum Empfang außer Rotwein auch Weißwein ausgeschenkt werden darf. Das wissen Chinesen alles selbst, aber sie wollen es von mir hören. Was ich mir wünsche? Ich möchte nur noch der Alterspräsident des Unternehmens sein.«
Ich sage ihm nicht, dass ich bezweifle, ob er sich das wirklich wünscht. Stattdessen frage ich nach Chinas Zukunft.
»Die kommunistische Regierung darf nicht die Herrschaft über das explodierende Wachstum verlieren, und sie muss sich mehr um das Leben der Bauern kümmern. Die Bedürfnisse der Menschen wachsen, doch die landwirtschaftlich nutzbare Fläche wird durch die Industrialisierung immer kleiner. Außerdem sollte man die teilweise strengen staatlichen Kontrollregeln endlich lockern. Beispielsweise die für militärische Sperrgebiete. Heute kann man doch aus dem Weltraum in die kleinste Ecke jedes Landes schauen. Und dann wünsche ich, dass China weiterhin dafür eintritt, alle internationalen Konflikte in der Welt nur politisch und nicht durch Kriege zu lösen. Dazu gehört allerdings auch, dass sie darauf verzichten, ihre militärische Stärke überdeutlich zu zeigen. Nicht wie damals, als sie mit einer Rakete ihren eigenen Satelliten im Weltraum weggeschossen haben. Das ist so, als ob man einer Mücke auf 100 Kilometer Entfernung treffsicher ein Auge ausschießt. Warum sie das getan haben? Um Taiwan und der USA zu zeigen: Wenn wir wollen, könnten wir einem General,der im Weißen Haus auf dem Klo sitzt, die Eier abschießen. Starke Länder haben es nicht nötig, ihre Stärke so zu demonstrieren.«
Ich frage ihn nicht mehr nach Deutschland und auch nicht nach dem Alterspräsidenten, denn ich weiß, dass der Sohn, der im Gegensatz zu Steffen Schindler perfekt Chinesisch spricht, eines Tages das Unternehmen weiterführen wird. Aber ich möchte noch wissen, was übriggeblieben ist von den sozialistischen Idealen, den »Irrungen und Wirrungen« des Genossen Militärattachés.
»Ich bin 1992 noch einmal zur Kreisleitung der PDS in Berlin-Marzahn gegangen. Wollte mich, wie es sich gehört, ordentlich abmelden. Also austreten. Aber im Hinterkopf hatte ich auch den Gedanken: Vielleicht bleibst du doch dabei? Aber im Parteibüro war alles wie früher. Ein junger Kerl sagt: ›Warte mal, Genosse.‹ Nachdem ich fast eine halbe Stunde
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