Madame Zhou und der Fahrradfriseur
für Uwe Kräuter nach über zehn Jahren plötzlich keine Arbeit mehr. Eine chinesische Filmzeitschrift veröffentlichte die traurige Story von Shen und Uwe. Danach bekamen die beiden sehr viele Briefe. Unbekannte Chinesen boten ihnen kostenlos Wohnung und Essen an. Ein Student schickte Uwe Kräuter einen Brief mit 10 Yuan und versprach, ihm diese Hilfe jeden Monat zukommen zu lassen …
Ich habe inzwischen alle Weihnachtsplätzchen aufgegessen.Weil nur der Teller auf unserem Tisch leer ist, decke ich verlegen ein Blatt Schreibpapier darüber. Und Uwe Kräuter erzählt doch noch von der Liebe.
»Bei der ersten Begegnung redete ich ununterbrochen auf sie ein. Aber Shen saß und schwieg und schaute mich nur an. Jetzt ist das umgedreht … Als Shen einmal für längere Zeit mit einem Filmteam unterwegs war, schickte sie mir einen roten Eimer, gefüllt mit 1000-jährigen in Lehm und Stroh eingewickelten chinesischen Eiern. ›Die werde ich nicht essen‹, sagte ich ihr am Telefon. ›Aber sie sind ein Zeichen meiner Liebe!‹, erwiderte Shen. Da habe ich sie alle aufgegessen.«
Sie ergänzt lachend, dass ein amerikanischer Mann seine chinesische Frau noch heftiger liebte. »Der hat sogar den Lehm und das Stroh mit aufgegessen.«
Zum Abschluss singt die schöne Shen Danping ein Lied vom Fisch und vom Vogel, die eigentlich nicht zusammenkommen können. Aber der blaue Himmel und das blaue Wasser vereinen sie.
Beide erhalten viel Beifall. Weil Bekannte und Freunde nach der Veranstaltung mit Uwe Kräuter sprechen wollen und auch der Ex-Botschafter sich lange mit ihm unterhält, warte ich geduldig, bis ich ein paar Worte mit ihm wechseln kann. Ich möchte wissen, welche der Ideale, für die er 1968 demonstrierte und in China als »kommunistischer Propagandist und Agitator« gearbeitet hat, ihm geblieben sind.
»Ich wünsche mir immer noch eine gerechte soziale Ordnung für alle Länder der Welt. Misstrauisch bin ich gegen Ideologien und Heilslehren, die ihre Regeln für die einzig gültige Weisheit der Welt halten und alle anderen Ideen ablehnen und verdammen. Doch diese Reinheit der Lehre hat die chinesische Kommunistische Partei seit dem Reformkurs wohl aufgegeben.«
Weil er auch darüber gesprochen hatte, welches Land er nach den 35 Jahren als seine Heimat empfindet, China oderDeutschland, ich aber das Gesagte nicht genau genug notieren konnte, bitte ich ihn, mir diese Passage seiner Rede zu schenken.
Er lacht, glättet die schon gefaltete Seite und überreicht sie mir zusammen mit seiner Visitenkarte. Aber nicht mit beiden Händen.
Zum Abendessen führen mich Monika und Klaus in ein internationales Restaurant. Von draußen hört man sehr laute Techno-Musik und einen noch lauteren Quizmaster. Drinnen zieht es, weil die Tür, obwohl es draußen hundekalt ist, einen Spalt offen bleibt. Die Fragen, die der Quizmaster ins Mikrofon schreit, erscheinen vorn auf einer großen Leinwand in englischer Sprache.
War Roosevelt, ein Präsident von
Frankreich
Schweden
den USA?
Ist Luanda die Hauptstadt von
Australien
Angola
Chile?
Ist Cat Stevens ein Sänger aus
Großbritannien
USA
Brasilien?
Alle blicken bei jeder Frage gespannt nach vorn. Und so merkt man kaum, dass »Fish and Chips« nicht gewürzt und die zum großen Teil aus Panade bestehenden Schnitzel zäh wie Schuhsohlen sind. Weil man sich wegen des Lärms nichtunterhalten kann, lese ich in Uwe Kräuters Bemerkungen zu seiner Heimat.
»Eine Wahlheimat kann kaum die wirkliche Heimat völlig ersetzen. Selbst wenn es keine unmittelbaren Reisegründe gibt, stellt sich bei mir nach einigen Monaten, spätestens nach einem halben Jahr, doch immer das Bedürfnis nach dem eigenen Land ein, nach Städten und Horizonten, den Menschen, ihren Augen, den Gesprächen, den Speisen, nach meinem Heidelberg und allem Vertrauten, das einen einst täglich umgeben hat […], die Balance zwischen zwei Welten fordert ihren Tribut, keine Frage, denn: Einsamkeiten hier wie dort. Schuld ist wohl die Automatik des Vergleichs. Man stellt fest, dass man etwas gewonnen hat. Verfügt man doch über mehr Verständnis für die Berechtigung der Unterschiedlichkeiten. Gleichzeitig fühlt man unweigerlich auch Verlust. Das eigene Selbstverständnis wie Selbstbewusstsein hat man aus seinem Ursprung mitgebracht. Also stellt sich Distanz ein, ganz natürlich, gegenüber der neuen Welt, anschließend auch gegenüber der Welt, aus der man stammt. Dem lässt sich nicht ausweichen. Der
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