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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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des BODENS ist eine Unbekannte! Das spätere Schicksal der Passagiere ebenfalls! Überhaupt, schon dieses Wort: die
Passagiere
– wie zweideutig! Und wie gut dieses Wort das Prekäre und Provisorische Ihrer Lage wiedergibt!«
    Er läßt seinen Blick über den Kreis schweifen und verleiht ihm plötzlich, was er schon lange nicht getan hatte, die größte Intensität. Die Wirkung zeigt sich sofort. Mich packt eine Angst, die vielleicht schlimmer ist als die Todesangst, denn sie bleibt vage, diffus, gegenstandslos und ist doch so stark und verfänglich, daß sie mich von Kopf bis Fuß erschauern macht. Ein gräßlicher Augenblick. Ich vermag meine Empfindung nur mit diesem subjektiven Bestimmungswort zu umschreiben. Sie hat keine erkennbare Ursache, höchstens die Art, wie der Inder das Wort »Passagiere« ausgesprochen hat, und die semantische Bedeutung, die er ihm gab.
    »Gut«, sagt Blavatski, und ich sehe ihn hinter dem Schutzschild seiner Brille blinzeln, »kommen wir zur zweiten Prämisse: über die Forderungen, die Sie an den BODEN gerichtet haben, sind Sie gewiß besser im Bilde.«
    »Meine Forderungen«, sagt der Inder mit kurzem Auflachen, »sind keineswegs maßlos! Entgegen Ihren möglichen Mutmaßungen verlangen sie dem BODEN keine Zugeständnisse ab! Weder die Freilassung politischer Häftlinge noch die Zahlung eines Lösegeldes.« Er setzt mit eigenartigem Lächeln hinzu: »In Wirklichkeit verlange ich die Wiedergutmachung eines Irrtums. Denn meine Assistentin und ich, wir befinden uns selbstverständlich auf Grund eines Irrtums an Bord dieser Maschine.«
    »Auf Grund eines Irrtums!« ruft Caramans aus. »Wie soll ich das verstehen?«
    »Aber ja«, sagt der Inder. »Wie konnten Sie, Monsieur Caramans, der Sie doch die personifizierte Logik sind, wie konnten Sie auch nur einen Augenblick lang annehmen, daß ich mich dorthin begeben wollte, wohin Sie zu fliegen glauben? Ich, der ich von der Nichtexistenz Madrapours überzeugt bin?«
    »Dorthin, wohin wir zu fliegen glauben?« Caramans’ Lippe zittert so, daß er nicht einmal seinen Flunsch ziehen kann. »Aber sofern keine neue Order kommt, fliegen wir doch nach Madrapour! Ich lehne jede andere Hypothese ab!«
    Der Inder zuckt die Brauen und lächelt wortlos mit der geduldigen Miene eines Erwachsenen vor einem starrsinnigen Kind. Und ich muß zugeben, daß Caramans’ sehr bestimmter Ton zumindest in meinen Ohren unecht geklungen hat.
    Der Inder sieht abermals auf seine Uhr, jedoch keineswegs ungeduldig oder fiebernd: offenbar könnte der stillschweigende Aufschub, den er Michou gewährt, jetzt anstandslos verlängert werden. Wie es scheint, hat ihn die Diskussion mit Blavatski in seiner Zuversicht bestärkt, daß der BODEN auf sein Ultimatum eingehen werde. Dabei sind die einzig neuen Elemente, welche die kurze Debatte enthüllt hat – seine irrtümliche Anwesenheit an Bord, die Bescheidenheit seiner Forderungen –, lediglich für uns überraschend. Für ihn ist das alles nicht neu und auch nicht dazu angetan, ihm wirklich Gewißheit über den Erfolg seiner Unternehmung zu verschaffen.
    Seine Zuversicht mindert deshalb auch nicht die Spannung in unserem Kreis. Blavatskis Hypothese vom weiteren Ablauf des Geschehens, die den Inder gar nicht berührte, hat uns allen das Blut in den Adern erstarren lassen. Nach und nach dringt uns der Gedanke ins Bewußtsein, daß Michous Tod letztendlich auch zu unserem eigenen Grabgeläute werden könnte.
    So vergehen zwei oder drei lange Minuten, ohne daß auf der einen oder anderen Seite ein Wort fällt. Dann hebt der Inder den Kopf und fragt seine Assistentin auf Hindi: »Na, wie weit sind sie?«
    Sie wendet ihm ein vor Verachtung verzerrtes Gesicht zu und sagt auf Hindi ein einziges Wort, das ich nicht verstehe, dessen Bedeutung aber von ihrem Antlitz abzulesen ist. Ebenfalls auf Hindi fügt sie hinzu: »Die Europäerinnen sind Hündinnen.«
    Das mißfällt dem Inder. Er zuckt hochmütig die Brauen und sagt zu ihr, als wollte er sie an eine unverrückbare Wahrheit erinnern: »Alle Frauen sind Hündinnen.«
    »Ich bin keine Hündin«, sagt die Assistentin und richtet sich hoheitsvoll auf.
    Der Inder läßt seinen ironisch funkelnden Blick über sie gleiten.
    »Was würdest du tun, wenn du in wenigen Minuten sterben müßtest?«
    »Ich würde meditieren.«
    »Worüber?«
    »Über den Tod.«
    Der Inder sieht sie an, als wäre er von ihr durch die Weisheit von Jahrhunderten getrennt, und sagt mit ernster Stimme: »Die

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