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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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(erst von seiner Mutter verwöhnt, dann von so vielen Frauen) gegenübersteht, entdecke ich auf seinem Gesicht einen Widerspruch: Trotz der männlichen Züge seines Römerkopfes wirkt das Gesicht insgesamt weichlich.
    Er sieht den Inder an und sagt auf ziemlich theatralische Weise, sehr deutlich, aber in lispelndem Englisch: »Und wenn Sie jetzt jemanden hinrichten müssen, will ich es sein.«
    Seine Ankündigung löst Lächeln aus, hier und da sogar Gelächter. Die Murzec stürzt sich auf die Beute.
    »Monsieur Manzoni«, sagt sie mit pfeifender Stimme, »schade, daß Sie in der Touristenklasse die Leuchtschrift gelesen haben. Sonst wären Sie für uns ohne Zweifel ein Held!«
    »Aber ich habe ja überhaupt nichts gelesen!« sagt Manzoni so gequält, daß ich ihn für aufrichtig halte.
    Und dennoch stelle ich später fest, daß niemand im Kreis ihm glauben wollte, er hätte den Mut gehabt – mit seiner Pose, seiner Rhetorik und seinem Lispeln –, an Michous Stelle zu treten.
    Michou taucht auf, eine Locke im Gesicht, die Augen gesenkt. Sie geht an Manzoni vorbei, als sähe sie ihn nicht, durchquert wie ein Automat den linken Halbkreis, setzt sich steif auf ihren Platz, schnallt den Gurt fest, schlägt ohne einen Blick, ohne ein Wort ihr Buch auf und liest oder tut so, als würde sie lesen. Ganz offensichtlich hat sie die Leuchtschrift gesehen – was Manzoni zu Unrecht, wie ich glaube, zusätzlich Lügen straft.
    »Wollen Sie sich nicht setzen, Madame?« fragt die Stewardess die Inderin, die vor dem Vorhang zur Touristenklasse stehengeblieben ist. »Manchmal setzen die Maschinen ein wenig hart auf.«
    Ich übersetze. Keine Antwort. Nur ein niederschmetternder, verächtlicher Blick. Erst an meine Adresse, dann an die der Stewardess.
    »Wollen Sie bitte meine Assistentin entschuldigen«, sagt der Inder in jenem höflichen Tonfall, hinter dem sich immer ein gewisser Spott zu verbergen scheint. »Sie ist mit der Überwachung beauftragt. Mr. Chrestopoulos blutet noch immer das Herz wegen seiner Ringe, und Mr. Blavatski hat seinen Revolver nicht verschmerzt.«
    »Sie könnten ihn mir wiedergeben, wenn Sie das Flugzeug verlassen«, sagt Blavatski mit gelassener Dreistigkeit.
    »Auf keinen Fall.«
    »Nur den Revolver«, sagt Blavatski. »Ohne das Magazin, wenn Sie befürchten, daß ich auf Sie schieße.«
    »Bitte keine Western, Mr. Blavatski!« sagt der Inder und fügt mit charmantem Lächeln, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, hinzu: »Sie brauchen keine Waffe. Sie haben Ihre Dialektik.«
    Daraufhin befestigt er wie wir alle seinen Gurt und wartet, die mit unsern Wertsachen vollgestopfte Tasche zu seinen Füßen, die Beine übereinandergeschlagen – nicht aus der Ruhe zu bringen,
gentlemanly
. Zugleich wirkt er jetzt irgendwie sehr distanziert, als wäre er gar nicht mehr mit uns zusammen und könnte uns nicht gestatten, das Wort an ihn zu richten.
    Wir indessen sind endlich wieder ganz beruhigt und nisten uns mit jeder Minute tiefer im Kokon des Alltäglichen ein. Wir warten, jeder für sich, besonnen, ruhig, wohlerzogen, an unsere Sessel geschnallt und Speichel schluckend, um den Druck in den Ohren zu verringern; die kleine Angst bei der Landung verdrängt jene andere, die an unsere Existenz gebunden ist. Mrs. Boyd lutscht einen Bonbon, Mrs. Banister gähnt hinter der vorgehaltenen Hand. Chrestopoulos macht sich unter seinem dichten Schnurrbart mit einem Zahnstocher zu schaffen. Bouchoix fingert an seinen Spielkarten. Michou, die Manzoni die kalte Schulter zeigt, liest wieder ihren bluttriefenden Roman.
    Kurzum: wenn man uns sieht, ist offenbar nichts geschehen. Es gab keine Flugzeugentführung, keine Auslosung und erst recht kein Sühneopfer, der Gottheit auf dem Tablett dargeboten. Gewiß, wir mußten einen Teil unseres Besitzes als Ballast abwerfen, aber mit Ausnahme von Madame Edmonde und Chrestopoulos, die sehr am äußeren Flitter hängen, sind alle froh, so gut davonzukommen – die Punktion war nicht viel schmerzhafter als eine Steuernachzahlung. Der Alptraum ist zu Ende, wie Mrs. Boyd so treffend sagte. Und ich möchte wetten, daß unsere
viudas
– die vorübergehend auch ihrem Vier-Sterne-Hotel nachtrauern mußten – ebendieses Hotel in Gedanken schon wieder vor sich sehen, die nach Süden gelegenen Luxuszimmer und die privaten Terrassen mit Blick auf einen See.
     
    Dennoch tritt während dieser trügerischen Rückkehr zur Normalität ein wichtiges Ereignis ein. Madame Murzec provoziert

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