Madrapour - Merle, R: Madrapour
den Kreis ein weiteres Mal, und der Kreis stößt sie endgültig ab. Ich gebrauche dieses Verb buchstäblich in dem Sinne, wie es in der Biologie Verwendung findet, wo man von einem Organismus sagt, daß er einen Fremdkörper abstößt.
Gewiß, wir haben alle unsere Gründe, gegen die Murzec Groll zu hegen. Ich zum Beispiel kann ihr nicht verzeihen, daß sie mir unterstellen wollte, ich hätte meinen Namen ausgelassen, als ich die Lose schrieb. Ganz ehrlich: ich verabscheue sie, auch ihr Äußeres. Ich kann den Anblick ihrer breiten Backenknochen, ihrer blauen Augen und dieses gelblichen Teints nicht ertragen. Und ich gestehe ohne Umschweife, daß ich im entscheidendenAugenblick zu denen gehörte, die Zeter und Mordio gegen sie schrien.
Trotzdem möchte ich gerechtigkeitshalber sagen, daß die Murzec bei allem, was sie ständig an uns auszusetzen hat, im Grunde fast niemals im Unrecht ist.
Ich will nur ein Beispiel nennen. Wenn sie Robbie, der das Foto von Michous Freund betrachtet, fragt: Gefällt Ihnen Mike?, so ist das zwar eine Gemeinheit, aber ein Anlaß dafür ist gegeben, denn sie bestraft eine Taktlosigkeit. Wie kommt es aber, daß der Kreis nicht Robbies Indiskretion im Gedächtnis behält, sondern die Bemerkung der Murzec?
Vielleicht liegt es daran: der Kreis hat sich binnen kurzer Zeit heimliche Regeln auferlegt, deren augenfälligste das Schweigen ist. So wissen wir sehr wohl, daß Madame Edmonde dies und Pacaud jenes ist, auch wie es um Robbie bestellt ist. Aber wir haben diese Tatsachen in unserem Gedächtnis gleichsam ausradiert und erwarten für uns und unsere Schwächen einen Gedächtnisschwund der anderen.
Madame Murzec spielt dieses Spiel nicht mit. Sie verstößt gegen die Regel. Ihre Fieberhaftigkeit, ihr unruhiges Wesen treiben sie dazu, beständig den Bodensatz des Gefäßes aufzuwühlen, aus dem wir trinken.
Wenn ich darüber nachdenke, bin ich sicher, daß sie in dem Augenblick kurz vor der Landung einfach nicht mit ansehen konnte, wie wir nach dem Anschnallen so scheinheilig dasaßen, ganz dem Vergessen und der moralischen Bequemlichkeit hingegeben. Daher ihr brutaler Angriff. Und gegen wen? Raten Sie doch! Wie ich es selbst hätte erraten müssen! Über wen kann die Murzec in diesem Augenblick nur herfallen, um uns zu schockieren und unsere Nerven einer Zerreißprobe auszusetzen und uns zum Zähneknirschen zu bringen? Über wen, wenn nicht Michou?
»Mademoiselle, ich muß schon sagen, ich bin erstaunt zu sehen, wie Sie die erstbeste Gelegenheit wahrnehmen, sich einem gewöhnlichen Schönling zwischen die Beine zu werfen, gerade Sie, die Sie doch vorgeben, Ihren Verlobten zu lieben«, sagt sie plötzlich mit pfeifender Stimme und schleudert gegen Michou einen eiskalten Blick. »Und das beinahe vor aller Augen, auf einem Sessel der Touristenklasse, die aber wohl der angemessene Ort für diese Art wohlfeiler Liebe ist, sofern ichdas Wort Liebe beschmutzen darf, indem ich damit die Übung bezeichne, der Sie sich zusammen mit einem Mann hingaben, den Sie heute morgen noch nicht einmal kannten!«
Michou zittert unter der Wucht dieses Angriffs, als hätte man sie geohrfeigt. Dann wird sie blaß, ihre Lippen erschlaffen, und die Tränen stürzen aus ihren Augen. Gleichzeitig öffnet sie den Mund, um zu antworten, aber sie kommt nicht dazu. Mit rotem Schädel und hervorquellenden Augen ist ihr Pacaud bereits zu Hilfe geeilt.
»Sie Giftschlange, Sie«, sagt er und wirft der Murzec wütende Blicke zu, »lassen Sie die Kleine in Ruhe, und lassen Sie sich das ein für allemal gesagt sein!«
Pacauds Ausbruch wirkt auf den Kreis wie eine Zündladung. Von allen Seiten hagelt es auf die Murzec nieder.
»Sie sollten begreifen, Madame, daß wir Sie und Ihre Reden jetzt wirklich satt haben!« sagt Blavatski schließlich, dessen Stimme den Tumult übertönt. »Schweigen Sie also! Das ist alles, was wir von Ihnen verlangen!«
Alle stimmen ihm zu durch Gesten, Worte, Mienenspiel, sogar die Stewardess. Nur der Inder hält sich von der Szene fern, die er zwar aufmerksam, aber mit Distanz beobachtet, so als spielte sie sich in einer Welt ab, der er nicht mehr angehört.
Hätte die Murzec in diesem Augenblick geschwiegen, wäre die Angelegenheit wohl erledigt gewesen. Aber die Murzec ist mutig, sie stellt sich der Meute entgegen, sie zahlt jeden Schlag heim, und der Streit nimmt wieder einen wütenden Verlauf und spült, wie so oft bei ernsten Auseinandersetzungen, läppische Sticheleien und unglaubliche
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