Madrapour - Merle, R: Madrapour
schreit Caramans entrüstet. »Sie haben absolut kein Recht, Stimmen zu werben! Außerdem war ich von Anfang an gegen die Auslosung. Ich werde also nicht dafür stimmen, daß wir noch einmal von vorn beginnen. Das widerspräche meiner prinzipiellen Haltung.«
Und er schweigt, er glaubt sich berechtigt dazu. Vielleicht ist er es wirklich, wenigstens auf der Ebene der Logik.
Pacaud, dem immer noch die Tränen über die Wangen rinnen, sagt mit erstickter Stimme: »Ihr seid Feiglinge.«
Die Murzec nimmt den Handschuh sofort auf.
»Wir brauchen keine Moralpredigten von einem lasterhaften Menschen Ihres Schlages«, sagt sie zischend. »Und wenn Sie schon ein so mitleidiges Herz haben, warum treten Sie dann nicht freiwillig an Michous Stelle?«
»Aber ich … ich kann nicht«, sagt Pacaud entwaffnet. »Ich habe Frau und Kinder.«
»Eine Frau, die du mit falschen Gewichten betrügst«, sagt Bouchoix haßerfüllt.
Pacaud dreht sich wütend zu seinem Schwager um.
»Wenn du so schön redest, warum meldest du dich dann nicht freiwillig? Wo du ohnehin pausenlos davon sprichst, daß du nur noch ein Jahr zu leben hast …«
»Genau«, sagt Bouchoix mit einem kurzen eisigen Lachen.
Abgezehrt und leichenblaß, sieht er aus wie der leibhaftige Tod. Und nun erfahren wir, daß er tatsächlich bald in die Grubesinken wird. Verlegen wenden sich die Augen von ihm ab, als gehörte er einer anderen Gattung an und als ob nicht auch wir sterblich wären.
»Übrigens bist du im Verzug, Paul«, fährt Bouchoix fort, der sich über die Angst, die er uns einflößt, zu freuen scheint. »Jetzt ist es kein Jahr mehr, es sind noch sechs Monate. Deshalb habe ich es so eilig, nach Madrapour zu kommen!«
In diesem Augenblick verstummt Michous Schluchzen, sie hebt den Kopf; mit verstörtem Gesicht, aber ziemlich beherrscht fragt sie den Inder: »Wieviel Zeit habe ich noch?«
Der Inder schiebt den Jackenärmel hoch und erwidert nach spürbarem Zögern: »Zehn Minuten.«
Ich bin überzeugt, daß er lügt, daß das Ultimatum in Wirklichkeit schon abgelaufen ist und daß er Michou stillschweigend Aufschub gewährt. Er kann es sich erlauben, er ist jetzt unumschränkter Herrscher über die Zeit, da er ja als einziger eine Uhr besitzt.
»Darf ich mich während dieser zehn Minuten in die Touristenklasse zurückziehen?« fragt Michou, deren Stimme nicht mehr zittert.
»Ja«, erwidert der Inder ohne Zögern.
»Mit Manzoni?«
Der Inder runzelt die Brauen.
»Wenn Signor Manzoni einverstanden ist«, sagt er, jetzt wieder übertrieben höflich.
Manzoni nickt zustimmend. Sein schöner Römerkopf ist bleich und starr. Er scheint unfähig zu sein, ein einziges Wort hervorzubringen. Michou steht auf, nimmt Manzoni an der Hand und zieht ihn wie ein Kind, das mit seinem Spielgefährten außer Sichtweite der Erwachsenen spielen will, hinter sich her. Sie durchqueren eilig den Kreis, wobei Manzoni in ihrem Schlepptau unverhältnismäßig groß wirkt. Der Vorhang zur Touristenklasse fällt hinter ihnen. Und von Michou bleibt nichts zurück als der Kriminalroman, den sie in ihrer Hast hatte fallen lassen, ohne ihn wieder aufzuheben. Mikes Foto war herausgerutscht und mit dem Gesicht nach unten liegengeblieben.
Der Inder steht auf und spricht leise mit seiner Assistentin, die sofort den Kreis durchquert und an der Schwelle zur Touristenklasse Posten bezieht. Sie zieht den Vorhang nicht zurück, sondern schiebt ihn nur in Augenhöhe ein wenig beiseite.
Das Schweigen im Kreis dauert an, aber mit einer neuen Nuance. Wir sind fassungslos. Niemand versteht, daß Michou, die eben noch verzweifelt schluchzte, eine solche Entscheidung treffen konnte. Das Eindringen eines sinnlichen Elements in den Ernst der Stunde mißfällt und schockiert uns. Um es hart auszudrücken, aber durchaus unseren Empfindungen entsprechend: Uns scheint, daß Michou aus der Rolle gefallen ist.
Doch niemand, nicht einmal Caramans, hat ein hinreichend reines Gewissen, um sich eine solche Bemerkung zu erlauben. Und schließlich sind wir Robbie fast dankbar, daß er für eine Ablenkung sorgt.
»Darf ich das Buch aufheben?« fragt er den Inder auf englisch.
»Bitte«, sagt der Inder.
Robbie bückt sich, hebt den Kriminalroman und Mikes Foto auf, schiebt das Foto zwischen die Buchseiten und legt alles zusammen auf Michous leeren Sessel. Man ist versucht zu glauben, daß er aus Feingefühl gehandelt hat – um Michou eine gewisse Verlegenheit zu ersparen, wenn sie an ihren Platz
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