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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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abnimmt, um es in meiner Reisetasche zu verstauen. Nachdem ich meinen Tee getrunken und die zwei Zwiebäcke gegessen habe, die sie mit Butter bestrichen hat, ist mir besser; trotzdem bleibt ein Gefühl der Schwäche und – wie soll ich es ausdrücken? – der Distanz gegenüber dem, was um mich herum geschieht.
    Denn Blavatski verlangt gebieterisch Ruhe und berichtet inmitten allgemeiner Bestürzung und Konsternation mit wichtiger Miene von seiner »Entdeckung«. Die alte Mrs. Boyd bricht wie ein kleines Mädchen in Schluchzen aus und lamentiert wegen der Kleider, die sie im Vier-Sterne-Hotel von Madrapour nicht wird tragen können.
    Auch ich bin niedergeschmettert. Aber mich trifft es nicht unvorbereitet. Ich erinnere mich an meine Besorgnis, als in Roissy die Stewardess meine Koffer, die ich irrtümlicherweise nach oben gebracht hatte, mit dem Lift wieder nach unten beförderte, durch Druck auf einen Knopf die Gepäckträger veranlassend, wie sie mir sagte, das Weitere zu besorgen: Gepäckträger, von denen ich unten nicht die geringste Spur gesehen hatte, deren Anwesenheit sie mir aber ausdrücklich bestätigte.
    Hat sie sich getäuscht? Hat sie mich getäuscht? Wenn ja, in welcher Absicht? Und wie könnte ich sie der »Komplizenschaft« bezichtigen, da ich sie doch ohne irgendeine Tasche an Bord gehen sah, da sie hier neben mir sitzt und das uns bestimmte Schicksal teilt? Ich betrachte ihr zartes Profil, die Zeichnung ihres kindlichen Mundes. Ich brächte es niemals über mich, ihr dazu auch nur die geringste Frage zu stellen, obwohl mich der Verlust meines Gepäcks aufs empfindlichste trifft.
    Wenn man jedoch, wie Blavatski, der Logik der Dinge vertraut, ist er nicht irreparabel. Sollten meine Koffer in Roissygeblieben sein, werde ich sie bei meiner Rückkehr dort wieder vorfinden. Und vorausgesetzt, daß wir wirklich nach Madrapour fliegen, braucht meine Reise nicht unbedingt ergebnislos zu sein. Bei meinen Forschungen über die Sprache Madrapours werde ich gewiß meine Lexika, meine Nachschlagewerke und mein Tonbandgerät vermissen, aber ich kann zumindest hören, Aufzeichnungen machen und versuchen, diese unbekannte Sprache einer bekannten Sprachgruppe zuzuordnen.
    Solche Überlegungen kommen mir freilich nicht. Ich sitze schwach und mutlos in meinem Sessel und gebe mich der Verzweiflung hin. Ich werde den schrecklichen Eindruck nicht los, daß ich mit meinen Lexika für immer meinen Beruf als Linguist verloren habe, an dem ich so leidenschaftlich hänge, daß ich mein Leben lang hinter den Sprachen her gewesen bin wie ein Kapitalist hinter seinen Profiten.
    Als ob es nicht möglich wäre, mir neue Lexika zu kaufen, wenn ich erst wieder auf der Erde bin! Es ist absurd, das spüre ich, aber meine Gedanken bewegen sich nur noch im Irrationalen. Ich stelle sogar eine Beziehung her zwischen dem Augenblick, als Blavatski mir mitteilte, daß der Frachtraum leer sei, und dem Augenblick, da mich die körperliche Schwäche überfallen hat.
    Der Kreis steht an der Klagemauer, nur daß das Ritual fehlt. Aus dem Chor von Wehklagen hört man eine Oktave höher das Lamento der Verzweifeltsten heraus: Mrs. Boyd, Madame Edmonde, Chrestopoulos. Den Griechen kann man nicht ansehen. Schwitzend, weinerlich, übelriechender als sonst, scheint er einen Anfall von Selbstzerstörung zu haben. Er hämmert mit beiden Händen auf seinen Kopf ein und stößt scheußliche Flüche gegen sich und seine Vorfahren aus.
    Madame Edmonde mit wogendem Busen und flammendem Blick ist zwischen Wut und Kummer hin und her gerissen. Aber sie ist wahrscheinlich weniger zu bedauern als Chrestopoulos, denn sie hat Robbie an ihrer Seite, der sie tröstet, während der Grieche, durch seinen Körpergeruch und seinen – möglicherweise unbegründeten – Ruf als Rauschgiftschmuggler isoliert, niemanden findet, der ihn tröstet, und kaum jemanden, der mit ihm spricht.
    Was Mrs. Boyd betrifft, so sind ihre guten Manieren einer Bostoner Großbürgerin wie weggeblasen. Jedes einzelne Kleidbeschreibend, das sie verloren hat, flennt sie hemmungslos unter dem kalten, verächtlichen Blick Mrs. Banisters, die sie gereizt mit spitzen Lippen tröstet. Denn selbstredend fühlt sich die Tochter des Herzogs von Boitel über solche Vorfälle erhaben, sosehr der Verlust ihrer Garderobe sie trifft. Und während sie an die Adresse von Mrs. Boyd Höflichkeiten herunterhaspelt, wirft sie dem links von ihr sitzenden Manzoni ironisch-komplizenhafte Blicke zu, als sollte er

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