Madrapour - Merle, R: Madrapour
zurückgeschlagen und den quadratischen Lukendeckel abgehoben.
»Aber das ist doch gefährlich!« sage ich. »Wenn jemand unachtsam oder noch verschlafen ist, könnte er auf dem Weg zur Toilette in das Loch fallen!«
»Gut, dann bleiben Sie eben hier stehen und passen auf, daß nichts passiert«, sagt Blavatski ungeduldig. »Ich sehe mal nach.«
Er zündet ein Feuerzeug an und verschwindet. Ich verspüre keine Lust, ihm zu folgen, zumal ohne Mantel. Mit meinem Reisenecessaire unterm Arm stehe ich neben dem Loch, das sich vielleicht am besten mit einer Gullyöffnung im Bürgersteig vergleichen läßt. Der Unterschied besteht darin, daß einem hier eisige Luft ins Gesicht schlägt, wenn man sich darüberbeugt. Fröstelnd und einigermaßen perplex weiche ich zurück. Ich vermute, daß Blavatski die Erinnerung an jene Boeing zu schaffen macht, die in der Nähe von Roissy-en-France mit den bedauernswerten Japanern am Boden zerschellte, weil die Außentür des Frachtraums undicht war. Wenn das aber auf unsere Maschine zutreffen sollte, verstehe ich nicht recht, was er machen könnte. Dieser Blavatski mit seiner ganzen Intelligenz geht mir auf die Nerven. Einmal macht er sich zu viele Sorgen, ein andermal zuwenig.
Blavatskis Hut taucht wieder auf, dann sein undurchdringliches Gesicht. Dann seine Schultern, die er schräg hält, um aus der schmalen Öffnung herauszukommen, dann die Hüften, mit denen er es noch schwerer hat. Am Ende legt er sorgfältig den Deckel über die Luke, schiebt den Läufer zurück, steht auf und sagt gleichgültig: »Alles okay, bis auf …«
Er kehrt mir den Rücken und will auf seinen dicken kurzen Beinen in die erste Klasse zurückgehen.
»Bis auf was?« frage ich.
Über die Schulter hinweg wirft er mir einen bissigen Blick zu.
»Bis auf die Tatsache, daß im Frachtraum keinerlei Gepäck ist. Unsere Koffer sind in Roissy geblieben.«
KAPITEL 10
Mir verschlägt es die Sprache. Mein Koffer enthält – oder besser: enthielt – Wörterbücher und Nachschlagewerke, die ich unbedingt brauche für die geplante Untersuchung (seltsam, daß ich nicht einmal vor mir selbst das Wort Madrapour auszusprechen wage). Aber im Moment berührt mich ein ganz anderer Aspekt dieser Entdeckung.
»Blavatski«, sage ich und halte ihn am Arm zurück (er bleibt sofort stehen und sieht mich mit gerunzelten Brauen über die Schulter an), »sagen Sie noch nichts zu unseren Reisegefährten, sonst sind sie wieder beunruhigt; sie werden früh genug erfahren, daß sie ohne ihr Gepäck abgeflogen sind.«
Massig steht Blavatski vor mir und ist doch gleichzeitig quirlig: eine Tonne, die sich um ihre Achse dreht. Er fixiert mich mit seinen stechenden grauen Augen. Ich weiß nicht, ob das mit seinen dicken Brillengläsern zusammenhängt, aber seine Augen wirken auffällig klein, zwei Dolchspitzen, die seinem Blick das Stechende geben. Er sagt nichts, kein einziges Wort, aber an seiner überheblichen Miene erkenne ich sofort, daß er meinen Vorschlag zurückweisen wird – mit einer salbungsvollen kleinen Moralpredigt. Ich glaube, daß ich alles in allem diesem Predigerton, auf den Blavatski bei großen Anlässen zurückgreift, seinen vulgären Jargon vorziehe, obwohl er mir ebenso affektiert erscheint, oder gar das dritte seiner Register – die kindlich-naive Aufgeräumtheit. Sein salbungsvolles Gewäsch ist um so unerträglicher, als es meistens egoistische Beweggründe verbrämt. In diesem Falle liegen sie klar auf der Hand: nachdem Blavatski entdeckt hat, daß unsere Koffer in Roissy geblieben sind, wird er nicht versäumen, sich bei unseren Reisegefährten mit dieser Entdeckung zu brüsten, und damit seinen Führungsanspruch, den er von Anfang an erhoben hat, bekräftigen.
Vorläufig läßt er mich in meiner Entrüstung schmoren. Kein Sterbenswörtchen. Schweigen. Unausgesprochene Mißbilligung.Ein stechender Blick wie ein Skalpell, der mich zerteilt. Die kräftigen weißen Zähne in einem verächtlichen Lächeln entblößt. Das kantige Kinn kampflustig vorgeschoben und das Grübchen darin auf dramatische Weise tief eingefurcht. Selbst sein störrisches Haar scheint sich zu wehren gegen einen Einfall, der von mir stammt und der immer nur der Gedanke eines Slawen ist – kapriziös und unzuverlässig, kein solider »angelsächsischer« Gedanke wie der seine. Denn er, Blavatski, handelt wenigstens, macht Front, kämpft, rückt von Entdeckung zu Entdeckung vor, greift in den Lauf der Dinge ein …
»Ich will doch
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