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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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Gottes ein.
    Für einen gläubigen Menschen wie mich ist dieser Gedanke überaus verwirrend. Denn der Gott, zu dem ich seit meiner Kindheit bete, bedient sich nicht der Technik, des Fernsehens, der Abhörgeräte. Er verwendet keinen Computer, vier Milliarden menschliche Wesen zu erfassen (und später zu entlohnen). Außerdem hat er sich durch seine Propheten und durch seinen Sohn offenbart. Wir wissen von ihnen, daß ER uns liebt und uns retten wird, sofern wir IHM gehorchen. Aber was wissen wir, die wir hier im Kreis sitzen, möglicherweise für immer Gefangene im Flugzeug nach Madrapour, was wissen wir vom BODEN und seinen Absichten? Der BODEN hat sich niemals
offenbart
.
    Man kann wohl vermuten, daß der BODEN das Leben Michous retten wollte, als er den Piraten gestattete, das Flugzeug zu verlassen. Aber der Inder selbst hat uns vor dieser beruhigenden Interpretation gewarnt. Bevor er ausstieg, hat er uns ausdrücklich nahegelegt, dem »Wohlwollen« des BODENS nicht zu sehr zu vertrauen. Und es ist tatsächlich möglich, daß der BODEN ihn und seine Gefährtin nicht Michous wegen an Land gesetzt hat, sondern weil ER sich darüber klargeworden war, daß die Anwesenheit des indischen Paares in der Maschine einen »Irrtum« darstellte, wie es der Inder selbst formuliert hat.
    Wie dem auch sei, der wichtigste, niederschmetterndstePunkt bleibt für mich, daß sich der BODEN uns gegenüber nicht
offenbart
hat.
    Dabei nimmt mit der Offenbarung alles seinen Anfang. Gott gibt sich dem Menschen zunächst zu erkennen und schließt dann mit ihm einen Bund. Solcherart können wir seinen Wünschen willfahren, ihn fürchten und ihn zweifelsohne auch lieben. Aber der BODEN, der uns unter dem Vorwand einer immer unwahrscheinlicher werdenden Reise nach Madrapour in dieses Flugzeug brachte, schweigt hartnäckig.
    Da wir nicht wissen, ob ER uns liebt oder ob ER uns haßt, ob ER unser Überleben will oder ob ER uns den Tod bestimmt hat, lastet auf uns fortwährend seine stumme Tyrannei.
    Zu ihm beten wie die Murzec? Aber was für ein Gebet soll es sein? Wir kennen nicht das uns von IHM bestimmte Schicksal. Und können wir uns denn in unseren Gebeten in aller Demut seinem Willen unterwerfen, wenn wir gar nicht wissen, was ER will? Ich frage mich im übrigen, ob wir, wie es die Murzec tut, den BODEN als einen Gott verehren sollen, nur weil er allmächtig, allwissend und unsichtbar ist. Sollte der BODEN nicht das Gute, sondern das Böse wollen, würden wir uns einer sträflichen Ketzerei schuldig machen, wenn wir ihn als Rivalen jenes Gottes anerkennten, den wir immer verehrt haben.
    Während ich darüber nachdenke, beugt sich die Stewardess über mich, ergreift meine Hand und sieht mich mit ihren grünen Augen an. Je nachdem, was sie ausdrücken, wirken ihre Augen heller oder dunkler, als ob ihre Empfindungen zu jeder Zeit die Fähigkeit besäßen, die Intensität ihrer Augenfarbe zu verändern. Obwohl jetzt die Sonne durch die Kabinenfenster scheint, wirken ihre Augen fast schwarz.
    »Geht es Ihnen besser?« fragt sie leise und beunruhigt. »Wo haben Sie Schmerzen?«
    »Nirgends. Ich fühle mich schwach. Das ist alles.«
    »Waren Sie denn schon vor dem Abflug krank?«
    »Nicht im geringsten. Ich habe in meinem ganzen Leben außer einer gelegentlichen Grippe nichts gehabt.«
    Sie lächelt mit mütterlicher Sanftheit, und ich vermute, daß ihr Lächeln die Besorgnis verbergen soll.
    »Ich kann Ihnen außer Aspirin nichts geben. Wollen Sie eine Tablette?«
    »Nein«, sage ich und zwinge mir ein Lächeln ab. »Danke, es wird schon besser werden.«
    Aber ich weiß bereits, daß dem nicht so sein wird. Die Stewardess wendet sich ab. Sie hat gemerkt, daß dieses Gespräch mich angestrengt hat.
    Ich folge der Richtung ihres Blicks: sie beobachtet Bouchoix, der mit geschlossenen Augen in seinem Sessel lehnt. Sein erschreckend abgezehrtes Gesicht hat eine wächserne, leichenhafte Färbung angenommen. Vor allem beeindrucken mich seine mageren gelblichen Hände, die sich auf der Decke verkrampfen, nicht weil Bouchoix leidet – sein Gesicht wirkt friedlich –, sondern auf Grund eines Reflexes, der sich bereits seinem Bewußtsein entzieht.
    Die Stewardess begegnet meinem Blick. Sich zu mir beugend, daß sie mich fast berührt, sagt sie hastig: »Ich mache mir Sorgen um diesen armen Mann. Er scheint ziemlich am Ende seiner Kräfte zu sein.«
    Mit gewohnter Geste schiebe ich meine linke Manschette hoch und erinnere mich im selben Moment daran, daß

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