Madrapour - Merle, R: Madrapour
hoffen, Sergius, daß das nicht Ihr Ernst ist«, sagt er bedeutungsvoll. (Aber gewiß doch, ich bin verantwortungslos!) »Es steht außerhalb jeglicher Diskussion, daß ich unseren Reisegefährten meine Entdeckung vorenthalte. Ich habe eine andere Vorstellung von Verantwortung (na bitte!); unsere Reisegefährten haben das Recht, genau zu erfahren, woran sie sind, und ich würde meiner Pflicht nicht genügen, wenn ich es ihnen verschwiege.«
»Ich sehe nicht recht ein, was das an den Dingen ändert«, erwidere ich. »Bei der Ankunft erfahren sie ohnehin, daß ihr Gepäck in Roissy geblieben ist! Warum dem vorausgreifen? Diese Reise war für sie schon beschwerlich genug!«
»Es steht Ihnen frei«, sagt Blavatski im Ton moralischer Entrüstung und fuchtelt mir mit seinem feisten Zeigefinger vor der Nase herum, »Ihre Reisegefährten zu belügen oder wie Kinder zu behandeln, die man vor der Wahrheit beschützen muß … Vielleicht darf ich nebenbei bemerken, daß die Stewardess diese Methode seit Beginn der Reise praktiziert hat. (Das im Tone böswilliger Unterstellung.) Ich dagegen halte meine Reisegefährten für erwachsene Menschen und habe nicht die Absicht, ihnen die Tatsachen vorzuenthalten.«
»Gut«, sage ich, verärgert über die Anspielung auf die Stewardess. (Denn in seinem Gesicht steht deutlich geschrieben: nicht genug damit, daß ich mich törichterweise in sie verliebt habe, ahme ich sie obendrein sklavisch nach.) »Sie teilen unseren Reisegefährten mit (ich senke die Stimme), daß sich ihr Gepäck nicht im Frachtraum befindet. Und dann? Was passiert dann? Nichts! Absolut nichts!«
»Was heißt hier nichts?« fragt Blavatski entrüstet. »Sie wissen dann Bescheid, das reicht doch!«
»Und was nützt es ihnen, Bescheid zu wissen? Können sie umkehren und ihre Koffer holen? Reklamieren? Den BODEN bitten, ihre Habseligkeiten mit dem nächsten Flugzeug nach Madrapour zu befördern? Schon jetzt ihre Versicherungsgesellschaft benachrichtigen? Sie selber sind unseriös, Blavatski.« Und in meiner Wut füge ich hinzu: »Sie scheinen sich einzubilden, daß dies eine Reise wie jede andere ist. Sind Sie dessen sicher? Und glauben Sie, daß wir zwangsläufig ankommen müssen, weil wir abgeflogen sind?«
Blavatski sieht mich sprachlos an, und ich bin selbst erstaunt über meine Worte, denn mir war nicht bewußt, daß ich bei meinen Überlegungen schon bis an diesen Punkt gelangt war.
Blavatskis Blick hinter den dicken Brillengläsern wird stumpf und verlischt; sein Körper, dieser zylindrische Block (ohne Taille, der Bauch so rund und massig wie der Oberkörper), scheint zu wanken.
Aber es ist nur eine momentane Schwäche. Eine Sekunde später ist er wieder da, fest auf seinen dicken Beinen stehend, mit angriffslustigem Kinn und stechendem Blick.
»Sie reden dummes Zeug, Sergius«, sagt er heftig und fügt wie zur Erklärung hinzu: »Übrigens sehen Sie heute morgen erbärmlich aus. Sind Sie krank?«
»Nein, nein«, sage ich hastig. »Ich fühle mich sehr gut, danke.«
Doch während ich diese Lüge über die Lippen bringe, kann ich es kaum erwarten, daß das Gespräch ein Ende findet, so mächtig ist mein Wunsch, mich zu setzen.
Mit Nachdruck, aber auch mit einer gewissen Hast, als ob er meinem Skeptizismus keine Zeit lassen wollte, das Terrain zu besetzen, fährt Blavatski fort: »Aber sicher werden wir ankommen, Sergius! Sie werden doch nicht annehmen, daß wir hundert Jahre in der Luft bleiben! Was hätte das für einen Sinn!«
Vielleicht ist es lediglich die Müdigkeit, daß mir unaufhörlich die Beine zittern, aber Blavatskis Vertrauen in die Logik der Dinge verursacht mir plötzlich Übelkeit, und ich rufe mit tonloser Stimme: »Hat vielleicht unser Leben auf der Erde einen Sinn?«
»Wie! das sagen Sie, Sergius? Sie, ein gläubiger Mensch?« Blavatski ist selbstverständlich kein gläubiger Mensch, würde aber um keinen Preis der Welt wagen, sich zu seinem Atheismuszu bekennen, zumindest nicht in seinem eigenen Land, aus Furcht, für einen Roten zu gelten.
Er kehrt mir den Rücken und geht in die erste Klasse zurück – ich folge ihm schwankend und lasse mich erleichtert in meinen Sessel fallen.
Ich habe noch mein Reisenecessaire unterm Arm und presse es unbewußt an mich wie meinen wertvollsten Besitz (der einzige, der mir verblieben ist). Und ich habe nicht einmal die Kraft zu lächeln, als sich die Stewardess mit ihren sanften, beunruhigten Augen über mich beugt und mir das Necessaire
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