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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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ich keine Uhr mehr besitze. Obwohl sich die Stewardess vorsichtig ausgedrückt hat, »er scheint ziemlich am Ende seiner Kräfte zu sein«, fürchtet sie offensichtlich, daß Bouchoix an Bord stirbt.
    »Beunruhigen Sie sich nicht«, sage ich. »Nach dem Stand der Sonne zu schließen, können wir von unserem Ziel nicht mehr weit entfernt sein. Vier oder fünf Stunden höchstens.«
    »Glauben Sie das?« fragt sie zweifelnd.
    Aber sie bedauert auf der Stelle, solchen Einblick in ihre geheimsten Gedanken gewährt zu haben, denn sie blinzelt, errötet, steht unversehens auf und verschwindet in der Pantry. Ich wende mühsam den Kopf und schaue ihr nach. Wie immer, wenn sie sich entfernt, habe ich eine unangenehme Empfindung von Kälte.
    Ich lasse meinen Blick über den Kreis schweifen. Obwohl ich jetzt zwischen meinen Reisegefährten und mir eine gewisse Distanz spüre, ist mein lebhaftes Interesse, ihr Tun zu beobachten, nicht geschwunden, im Gegenteil. Es mischt sich darein sogar eine gewisse Begierde, als ob allein durch die Beobachtung ihrer Vitalität, ihrer Gespräche, ihrer Liebesbeziehungen das Blut in mich zurückströmte, das ich verloren habe.
    Manchen gegenüber hatte ich Feindseligkeit empfunden.Damit ist es endgültig vorbei. Auch mit den Werturteilen. Ah, die Moral! die Moral! Man sollte ihr mißtrauen! Sie ist das beste Mittel, nie etwas vom menschlichen Wesen zu begreifen.
    Zum Beispiel Madame Edmonde: ich betrachte zu meiner Rechten diese prächtige Stute, deren üppige Formen beinahe das grüne Kleid mit dem großen schwarzen Rankenmuster platzen machen. Ich finde sie trotz ihres scheußlichen Berufs immer sympathischer – ihre Leidenschaft für Robbie ist überaus rührend. Am Anfang hat sie sich für ihn vielleicht nur deshalb interessiert, weil er neben Michou am meisten Ähnlichkeit mit einem jungen Mädchen hatte. Mit ihren blauen Augen sieht sie ihn unentwegt so verliebt an, als wollte sie ihn jeden Augenblick in die Touristenklasse entführen, ihm die Hosen herunterziehen und ihn vergewaltigen. Aber ich bin sicher, daß sie ihn über das Begehren hinaus auf robuste, vitale Weise ohne Umschweife zu lieben beginnt. Und er, der feine, zarte Robbie mit all seinen Raffinements der Kultur, die ihm einst als Rechtfertigung seiner Homosexualität dienten, ist fasziniert von dieser ungehobelten Liebe, die ihn beinahe von seinem Narzißmus befreit. Diese Liebe, in die er sich immer mehr hineinziehen läßt, muß für ihn auf paradoxe Weise pervers sein.
    Zu meinem großen Erstaunen schlägt Bouchoix die Augen auf. Seine rechte Hand, eben noch auf der Decke verkrampft, unternimmt eine lange, zögernde, tastende Reise bis zu seiner Jackentasche. Nicht ohne Mühe holt er sein Kartenspiel heraus. Ein Ausdruck von Zufriedenheit breitet sich auf seinem abgezehrten Gesicht aus, auf seinen Wangen zeigt sich wieder etwas Farbe. Mit äußerst schwacher Stimme sagt er zu Pacaud:
    »Wollen wir … pokern?«
    »Geht’s dir denn besser, Emile?« fragt Pacaud, sogleich rot anlaufend, und seine Augen quellen hervor unter dem Eindruck einer absurden Hoffnung.
    »Gut genug … um zu pokern«, antwortet Bouchoix mit dünner, abgehackter Stimme, die von sehr weit zu kommen scheint.
    Im Kreis verstummen die Gespräche. Man könnte meinen, daß alle sogar vorsichtiger atmen, weil Bouchoix’ Stimme so zerbrechlich klingt.
    »Aber du weißt doch, daß ich nicht gerne pokere, Emile«, sagt Pacaud verlegen. »Außerdem hab ich kein Glück. Ich verliere immer.«
    »Du verlierst … weil du … schlecht spielst«, sagt Bouchoix.
    »Ich kann nicht lügen«, sagt Pacaud, immer noch rot und bemüht, unbeschwert zu erscheinen – was ihm nicht völlig gelingt.
    »Außer … in deinem … Privatleben.«
    Schweigen. Betroffen sehen wir Bouchoix an, der seinen Groll offenbar mit ins Grab nehmen will. Pacaud schweigt stoisch mit hochroter Stirn, Michous Hand fest in der seinen haltend.
    »Sie sind gemein!« sagt Michou, ohne jedoch Bouchoix anzusehen, als bezöge sich ihre Bemerkung allgemein auf die Welt der Erwachsenen.
    Wiederum Schweigen.
    »Spielst du nun?« fragt Bouchoix ungeduldig.
    »Aber wir haben doch kein Geld!« sagt Pacaud. Und weil die Verlegenheit ihm die Zunge löst, fährt er fort: »Eigenartig, daß ich mich so nackt fühle, wenn ich keine Brieftasche in meiner Jacke habe. Ja, nackt. Und, wie soll ich sagen? (er sucht nach Worten) in meiner Männlichkeit beeinträchtigt.«
    »Interessant!« sagt Robbie. »Soll das

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