Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madru

Madru

Titel: Madru Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederik Hetmann
Vom Netzwerk:
fiel Madru ein, daß die Karte des Einsiedlers im Bilderspiel zugleich die Karte mit dem Haselnußstrauch war. Er war sicher: dort drüben, i diesem Busch, war der Zwerg verschwunden.
     

DREIZEHNTES KAPITEL
    Zu Pferde in die Anderswelt
    Die Nebelfrauen lassen den Tag zur Nacht werden

    Etwas bestürzendes geschah. Madru verlor sein Erinnerungsvermögen. Alissa, Ase, der Fürst des Waldes - zuerst wurden alle zu Schemen, dann sah er nur noch Fragmente, wenn er sich zu erinnern versuchte -eine Gesichtshälfte, eine Hand, eine Hüfte, das Lächeln, das um einen Mund spielt, dann gar nichts mehr. Es war, als würden von einer unbekannten Macht auch bestimmte Gefühle in ihm ausgelöscht.
    Einmal fiel sein Blick auf die Schiefertafel, auf der er - bis zum Besuch des Boten und des Zwerges - jeden Tag, den er schon in der Wildnis war, mit einem Strich markiert hatte. Welche Empfindungen hatten sich einmal mit diesen Strichen verbunden? Er wußte noch vage, daß sie ihm wichtig gewesen waren, aber das Warum konnte er in seinen Gedanken nicht mehr aufspüren.
    Es war gut jetzt, daß es die alltäglichen Beschäftigungen gab, die er verrichten mußte, um sich ernähren zu können. Er fischte, sah nach, ob Kaninchen in seine Schlingen gegangen waren. Einmal blieb er stehen, schaute den Wolken nach und dachte: jemand hat geträumt, daß sie dahintreiben. Ja, warum nicht? Er heizte mit Birkenscheiten die Schwitzstube. Er schwamm im See, und wieder fiel ihm ein: jemand hat geträumt, daß ich schwimme. Er bereitete sein Abendessen und holte von der Quelle Wasser. Er schlief und träumte von nichts anderem als vom Träumer, der diese Welt geträumt hat.
    Tage vergingen. Er sammelte Kräuter für den Salat, den er sich mittags zubereitete, für den Kessel Tee, den er am Morgen kochte Es ging ihm durch den Kopf, was Allwiss gesagt hatte. Wenn Tränme solche Macht haben, dachte er, will ich lernen, selbst die Wehte zu träumen.
    Er dachte an das Bilderspiel. Er wußte nicht mehr, wo er es liegengelassen hatte. Eigentlich, überlegte er, sind die Karten ein Lehrbuch für Träumer. Wenn die Welt unterginge oder der Wald, um I man hätte vorher einen mächtigen Traum geträumt ... das wärt' auch eine Rettung. Einen Traum, in den sich alle flüchten könnten, einen Traum, der die Katastrophe nicht kennt.
    Dann überkam ihn eine merkwürdige Unrast. Er ging wieder zu dem Haselstrauch, in dem der Zwerg veschwunden war und untersuchte das Gebüsch noch einmal genau danach, ob es dort einen Zugang zur Anderswelt gäbe. Außer einem lächerlichem Mäuselöchlein fand er nichts. Er verfiel ins Grübeln darüber, wo solche Stellen liegen mochten. Hohle Bäume, Gegenden, in denen die Waldblumen merkwürdige Muster bildeten, Erhebungen, unter denen sich vielleicht uralte Gräber verbargen, das Quellenloch, in dem man das Wasser aus dem Erdinnern aufsteigen sah? Ein Ufer, ein Dickicht, der Grund des Sees, über dem ein goldenes, rostbraunes Licht stand? Er lief umher, beobachtete, kletterte, tauchte im See. Wie ein Spürhund kam er sich vor und wußte zugleich, daß alles vergeblich war. Nachts wachte er auf mit der Frage, wo er am nächsten Tag suchen solle und geriet in einen Zustand nahe dem Wahnsinn. Er aß nicht mehr. Zufällig sah er sein Spiegelbild im Wasser und erkannte, daß ihm ein struppiger Bart gewachsen war.
    Zum Schluß saß er auf dem Strand, zusammengekauert, auf den Fersen hockend, das Kinn auf den Knien und starrte auf die Wasserfläche hin. Kleine Wellen brachen sich am Strand. Einmal meinte er, in ihrem Aufblitzen den Zugang zur Anderswelt gefunden zu haben. Bei einem Sturm waren Algen angespült worden. Die angetrockneten Fäden und Büschel ... waren sie ein Spruch, eine Mitteilung? Er fühlte sich leer und erschöpft. Er unternahm eine letzte verzweifelte Anstrengung, Erinnerungen in sich aufzuspüren. Er wußte jetzt nicht einmal mehr, wo er geboren war, alle Bilder aus seiner Kindheit waren in ihm verschwunden. Er kam sich vor wie jemand, der langsam den Boden, auf dem er steht, zerbröckeln spürt. Gleich würde er ins Nichts stürzen.
    Etwas zwang ihn, aufzublicken. Es war ein klarer Abend. Die Silhouette der Bäume rings um den See stand schwarz und scharfumrissen da. In dem wolkenleeren, türkisfarbenen Himmel zeigte sich eine schmale Mondsichel, die etwas Grausames hatte. Vom anderen Ende des Sees rollte eine Nebelbank heran. Das geschah häufig um diese Jahreszeit. Es bedurfte dann nur eines Windstoßes, und der

Weitere Kostenlose Bücher