Madru
gewaltige Ausdehnung hatte, aber aus größerer Höhe immer kleiner wurde, stand ein Regenbogen.
Etwas klirrte, schepperte, zersprang. Winzige, in den Spektralfarben leuchtende Teilchen flogen Madru um die Ohren, und er erkannte jetzt, daß es nicht, wie er immer sagen gehört hatte, eine Mauer war, die die beiden Welten voneinander trennte, sondern eine hohe Wand aus Kristall. Sie waren offenbar bewußt mit den Pferden mitten hineingeritten. Ein Riß, ein Sprung war entstanden, und durch ihn hindurch waren sie hinübergelangt.
Madru wandte sich neugierig um, ohne die Mähne des Pferdes loszulassen.
Dort, wo die Kristallwand ganz unversehrt war, sah man den Wald nur noch recht verschwommen. Nur durch die Bruchstelle sah man die Menschenwelt klar und deutlich. Und jetzt flogen sie schon über eine ganz andere Landschaft, eine öde bräunlich-violett-graue Heide. Jenny Grünzahns Pferd richtete sich auf den Hinterbeinen auf. Es schnaubte und aus seinen Nüstern stob schwefelgelber Atem. Sie zwang das Tier mit den Zügeln zum Gehorsam und lenkte es um die Hinterhand. Sie galoppierte jetzt nicht mehr waagerecht zum Erdboden, sondern tatsächlich senkrecht. Es schien, als wolle sie mit ihrem Pferd in den Himmel reiten, wo gerade die ersten Sterne zu funkeln begannen. Sie machte sich an der einen Satteltasche zu schaffen und holte etwas heraus. Ein Blitz fuhr, kaltes Feuer versprühend, über die Wand aus Kristall und die Bruchstelle war wieder verschlossen.
Die Frauen ritten voraus und gaben die Richtung an. Madru machte sich gar nicht mehr erst die Mühe, sein Pferd zu lenken. Es schien einem Zauber zu gehorchen. Bald senkten sich die Tiere wieder, und als die Hufe dann den Boden berührten, nahm das Tempo des Rittes zu.
Zuerst erschien die Heidelandschaft Madru einsam und verlassen, aber nach geraumer Zeit sah er, daß die Nacht voller Wanderer war. Es waren jeweils ganze Abteilungen, Haufen, Kolonnen und Gruppen, die offenbar alle einem bestimmten Ziel zustrebten. Während sie an ihnen vorbeiritten, blieben manche stehen, winkten ihnen zu und grüßten, während andere keine Notiz Von ihnen nahmen und weitermarschierten. Trotz des schmalen Mondes war es hell genug, um Einzelheiten erkennen zu können. Zunächst war Madru von dem ungewöhnlichen Aussehen der Gestalten verwirrt und wußte nicht, wofür er sie halten sollte, bis ihm seine Begleiterinnen erklärten, daß dies alles Wesen seien, die in den verschiedenen Bäumen und Sträuchern wohnten, und sie nannten ihm auch jeweils die Namen, unter denen sie in der Anderswelt bekannt waren.
Da gab es die Tannenalben, die weiße Gesichter mit roten Augen hatten. Auf dem Kopf trug jeder von ihnen einen Helm aus Tannenzapfen und in den Händen hielten sie überlange Holzspieße. Die Weißdornwichte erkannte man daran, daß ihnen die Nase wie ein überlanger Dorn aus dem Gesicht ragte. Sie hatten lange dünne Ohren, stockdünne Leiber und spitze Kappen, die aus den Häuten von Pilzen zusammengenäht zu sein schienen und in einem langen, spiralförmig gedrehten Wurzelhaar ausliefen. Die Eschen-Ormen waren abweisend und finster. Sie schleppten sich an den Stämmen samt Wurzelwerk ab, in denen sie gewöhnlich wohnten. Breitgesichtig und grauhaarig kamen die Holunderhulden daher. Sie hatten ihre Schürzen aus Kohlblättern gerafft und hielten darin die blau-schwarzen Früchte ihrer Sträucher.
Die Haselnuß-Bolzen waren, verglichen mit Maßen des menschlichen Körpers kniehoch, hatten Mardergesichter und Raffzähne. Sie hielten Steinschleudern in den winzigen, knolligen Händen. Barhäuptig, die ovalen Gesichter schwarz-weiß gescheckt, latschten die Birkenkerle dahin, unbewaffnet, aber die Frauen wiesen im Vorbeireiten auf die überlangen Fingernägel an der linken Hand, und erzählten, wenn sie damit jemanden am Kopf berührten, wachse ihm kein Haar mehr. Es bleibe ein weißes Mal, und der Betreffende sei um den Verstand gebracht.
Mit Dreschflegeln und hölzernen Gabeln bewaffnet waren die Apfeltruden, dralle schnucklige Dirnen, rotbäckig, mit strammen Waden, die moosgrüne Wollstrümpfe zierten.
Die Eichenhenker hielten auf eine geschlossene Marschformation. Wenn man in ihre Gesichter schaute, zuckte man unwillkürlich zurück, denn da sah man keine Augen, keinen Mund und keine Nase, sondern glatte Haut, auf die sie Aschenkreuze gemalt hatten. Auf der Stirn wuchs ihnen ein riesiges Geweih. Statt Händen hatten sie Klauen wie Raubvögel, und am Kinn traten Hauer wie
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