Mädchen im Moor
solche Reaktionen verständlicherweise nicht. Man kann den pädagogischen Wert einer offenen Anstalt erkennen oder nicht … ihn bis ins Detail zu erklären, war sinnlos. Wer kein Gefühl für Psychologie hat, wird es nie durch Vorträge lernen. Um so mehr freute sich Dr. Schmidt, wenn junge Anwälte nach Wildmoor kamen. Hier fand er ein anderes Vermögen, Neuheiten zu erkennen und über sie zu diskutieren. Zwar fand er auch hier Mißtrauen und Bedenken gegen diesen milden Strafvollzug, aber die neue Generation der Anwälte war in einem Zeitalter aufgewachsen, das das Chaos zweier Kriege als Ballast mit sich trug und die Menschen ins Extrem veränderte. Sie sahen in der wachsenden Jugendkriminalität vor allem die Auswirkungen dieser Nachkriegsjahre, das Fehlen von Elternhaus, die ›Nestwärme‹, wie es ein Mediziner einmal nannte, die soziale Umschichtung und den Einfluß unkontrollierbar übernommenen Fremdtums. Der Gangster wurde zum Held, der Betrüger zum schlauen Kerl, die Dirne zur flotten Biene, das Bordell zum Spielplatz. Es war eine Vergiftung der Hirne, und es nützte hier nichts, zu bestrafen, sondern es ging darum, durch Beispiele zu belehren und einen anderen, besseren Weg aufzuzeigen.
So etwas war stets der Endpunkt aller Aussprachen. Dr. Schmidt wußte, daß es nur Theorie war … die Jahre, die Wildmoor noch bevorstanden, mußten die Richtigkeit beweisen – oder sie verneinen. In der kurzen Zeit, in der Gut Wildmoor bestand, war es unmöglich, schon von Erfolg oder Mißerfolg zu sprechen.
Dr. Schmidt hatte deshalb sofort zugesagt, als Dr. Spieß bei ihm anfragte. Er hatte die Akten Monika Busse herausgelegt, hatte sich bei Julie Spange nach dem bisherigen Verlauf der Erziehung erkundigt und fand in Monika Busse ein Musterbeispiel seiner Idee: Ein Mädchen aus gut bürgerlichem Hause, das gestrauchelt war und nun zur Besinnung kam und sich selbst nicht mehr verstand.
Die Begrüßung zwischen Dr. Schmidt und Dr. Spieß war kurz und herzlich. Sie tranken eine Kanne Kaffee miteinander, die ein Hausmädchen in dunkelgrauem Kleid und weißer Halbschürze servierte. Dr. Spieß sah dem Mädchen verblüfft nach, als es das Zimmer wieder verließ. Dr. Schmidt nickte.
»Auch eines meiner Pflegekinder«, lachte er auf die stumme Frage des Anwaltes.
»Nicht möglich –«
»Ich kann Ihnen die Akte zeigen. Johanna Meltzig. 19 Jahre, 2 Jahre Jugendstrafe wegen Raubüberfall. Sie hatte die todsichere Masche, sich an die Autobahn zu stellen, den Rock hochzuheben und mitzufahren. Im Waldstück eines Rastplatzes, wenn der Kavalier zärtlich wurde, holte sie aus ihrer Handtasche einen Schlagring und – paff – bekam der Liebestolle eine ziemlich schmerzhafte Liebkosung. Den Ohnmächtigen raubte sie dann aus, stellte sich wieder an die Autobahn und ließ sich vom Tatort wegfahren. Die Polizei hat zwei Jahre gebraucht, um sie zu bekommen.«
»Also mit 17 hat sie schon angefangen …«
»Stimmt. Im Gefängnis war sie aufsässig und später voll passiven Widerstand. Gegen alle Argumente der Behörden habe ich sie nach Wildmoor geholt, sozusagen auf eigene Verantwortung. – Sie sehen, was aus ihr geworden ist.«
»Erstaunlich – wenn es kein gutes Schauspiel ist.«
»Das dachte ich auch. In einem halben Jahr ist ihre Strafe um … sie will freiwillig hier bleiben. ›Ich habe nie gewußt, daß man so schön leben kann‹, sagte sie einmal. ›Draußen geht es ja doch wieder los …‹. Wenn sie das Glück hat, einen guten Mann zu heiraten und Kinder zu bekommen, wird sie einmal eine musterhafte brave Frau sein.«
Dr. Spieß sah hinaus auf den großen Innenhof. Vier Mädchen schoben einen großen, gepreßten Strohballen auf einer Spezialkarre von der Scheune zu den Ställen. Sie trugen Kopftücher und lachten laut, als eine von ihnen auf dem Eis ausrutschte und auf die Knie fiel. Dr. Schmidt beugte sich vor und betrachtete ebenfalls das fröhliche Bild.
»Da ist ja Ihre Monika Busse dabei –«, sagte er plötzlich.
»Nein –«
»Doch. Die rechte, hintere. Die jetzt den Karren wegdrückt.«
»Ich hätte sie nicht wiedererkannt. Sie lacht ja …«
»Warum soll sie nicht lachen? Ein fröhliches Herz ist der beste Nährboden.« Dr. Schmidt öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. »Monika!« rief er in den Hof. »Kommen Sie bitte zu mir –«
»Jawohl, Herr Direktor.« Monika Busse blieb stehen und zog an ihrem Kopftuch. »Ich werde mich erst umziehen –«
»Kommen Sie so, wie Sie sind.«
»Aber
Weitere Kostenlose Bücher