Mädchen im Moor
Monika allein.
Dr. Schmidt saß hinter seinem Schreibtisch und blätterte in der Akte Busse. Dr. Spieß ging mit schnellen Schritten vor dem Tisch hin und her und rauchte hastig eine Zigarette.
»Gut«, sagte Dr. Schmidt. »Wir haben nun eine Aussage von ihr über die Hintergründe. Aber das ist kein Revisionsgrund. Damit kommen Sie nicht zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens.«
»Ich weiß, Herr Regierungsrat.« Dr. Spieß zerdrückte die Zigarette. »Aber ich habe einen Verfahrensfehler entdeckt. Ein Strohhalm, an den ich mich klammere, und ich weiß von Kollegen, daß sie damit immer Erfolg hatten.«
»Und das wäre?«
»Bei dem Zeugen Mahnert, einem der Käufer der gestohlenen Waren, der angeblich völlig ahnungslos war, hat der Richter die Zeugenbelehrung über den Eid unterlassen …«
Dr. Schmidt klappte die Akte Busse zu. »Sie sind gefährlicher, als Sie aussehen, Doktor!«
Dr. Spieß hob die Schulter und lächelte schwach.
»Ich werde alles tun, um Monika freizubekommen. Und ich weiß … ich schaffe es auch!«
Dreimal wöchentlich war Unterricht.
Zu diesem Zweck kam aus Stevenhagen eine Berufsschullehrerin nach Gut Wildmoor. Der Speisesaal verwandelte sich dann in ein großes Schulzimmer, die Tische wurden zusammengerückt zu langen Reihen, eine breite Tafel stand an der Stirnseite des Saales, der Spieltisch des Tischtennis' diente als Pult und Demonstrationsfläche. Frau Erna Wangenbach, die Lehrerin, gab sich alle Mühe, diesen schweren Unterricht so spannend und anschaulich wie möglich zu gestalten. Sie brachte in der Naturkunde ausgestopfte Tiere mit, Pflanzen und Mikroskope, in der Gesundheitslehre Modelle von Ohren und Augen und große Karten über Blutkreislauf, Verdauung und Knochenbau. Einmal war es vorgekommen, daß das Bild über die Muskeln des Menschen unanständig umgezeichnet worden war … Dr. Schmidt hatte nie herausbekommen, wer es gewesen war, aber die Drohung, statt des Unterrichtes zwei Stunden zum Torfstechen hinauszufahren, hatte gewirkt. Fünfzig Mädchen von 16 bis 21 Jahren saßen brav hinter dem Tisch und bemühten sich, zu lernen.
Der Stundenplan war genau festgelegt. Es gab Deutsch, Rechnen, Gemeinschaftskunde, Geschichte, Gesundheitslehre und Turnen. Dazu kamen zwei sogenannte ›Freistunden‹, in denen in einem Werkraum gebastelt wurde. Zur Zeit waren dort zehn Mädchen dabei, Kulissen zu bemalen. Eine Laienspielschar unter Leitung von Frau Wangenbach und der Heimmutter von Block II, Hedwig Kronberg, probte ein Weihnachtsmärchen ein. Abends erklangen daher im Speisesaal Weihnachtslieder und Engelchöre, und auf einem Podium verwandelten sich die ›schweren Mädchen‹ in Sternkinder, in Rotkäppchen und Schneewittchen, in die Sieben Zwerge und den schönen Prinzen, in Petrus mit dem Himmelsschlüssel und in die Erzengel.
In der Schneiderei von Wildmoor nähten unterdessen zehn Mädchen die Kostüme. Dr. Schmidt selbst hatte sie entworfen, auch die Bühnenbilder stammten von ihm. Es sollte ein ganz großer Abend werden. Als Ehrengäste wurden der Landgerichtspräsident, der Oberstaatsanwalt, zwei Herren aus dem Justizministerium und eine Reihe Journalisten erwartet.
Ein Weihnachtsmärchen, gespielt von jugendlichen Dirnen und Diebinnen. Gleichzeitig aber sollte es auch eine unübersehbare Demonstration von der Richtigkeit der Schmidtschen Reformgedanken werden.
Krach hatte es bei der Besetzung des Spieles nur einmal gegeben, und das ausgerechnet bei der Rolle der Maria, die am Schluß als Apotheose auftritt … eine im Hintergrund angeleuchtete Krippe mit der Heiligen Familie, umgeben von den singenden Engeln, die »O du fröhliche, o du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit …« jubelten.
»Die Maria kann nur spielen, wer mütterliche Gefühle kennt!« rief ein stämmiges Mädchen aus Block II. »Und die kenn ich … ich habe schon zwei Kinder –«
»Den Joseph möchte ick sehn, der an dir drangeht!« schrie Hilde Marchinski zurück.
Julie Spange verhinderte eine Keilerei, indem sie Hilde und das Mädchen aus Block II kurzerhand in die Strafzellen einsperren ließ. Dort blieben sie zwei Tage bei Wasser und Brot … als sie herauskamen, war die Besetzung entschieden. Ein Mädchen mit naturblondem Haar spielte die Maria. Ein zierliches Persönchen mit einem wirklich süßen und naiven Gesicht. Im Gegensatz dazu stand die Strafakte. Sie reichte vom Herumtreiben bis zum Beischlafdiebstahl. Es war der typische Fall eines Mädchens ohne Elternhaus. Der
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