Mädchen im Moor
geschrieben. Obgleich er ahnte, daß sie sinnlos war, daß niemand sie lesen würde oder sich ernsthaft mit ihr auseinandersetzte, hatte er über zwanzig Seiten eng beschrieben. Seit Jahrzehnten knobelten die Juristen an einer umfassenden Strafrechtsreform, schon in der Weimarer Republik stand sie auf der Tagesordnung … wie sollte da der Schriftsatz eines kleinen, im Gefängnisdienst eingesetzten und zudem noch jungen Regierungsrates zu der Ehre kommen, überhaupt beachtet zu werden?! Es gibt eine Hierarchie der Trägheit … sie ist nirgendwo augenfälliger, als wenn es um staatliche Reformen geht!
»Wie willst du das alles geradebiegen?« fragte Dr. Röhrig wieder. Dr. Schmidt blieb stehen.
»Was geradebiegen?«
»Alles, was du bisher verschwiegen hast und was in keinem Bericht steht … der Mordversuch an der Köchin Gumpertz, die Abstellung dieser Monika Busse über Monate hinaus, der Selbstmordversuch Hilde Marchinskis, der Verkauf von Kosmetika in der Kantine …«
Dr. Schmidt trank seinen Kognak in einem Zug leer.
»Ich werde alles berichten.«
»Und sie schließen dir sofort die Anstalt!«
»Sie können mich strafversetzen –«
»Und nach Wildmoor – wenn es überhaupt Strafanstalt bleibt – kommt ein Scharfmacher, der hier einen normalen Gefängnisbetrieb aufzieht unter dem alten, deutschen Motto: Strafe, nicht Besserung.« Dr. Röhrig goß sich wieder ein. »Es ist zum Kotzen, Peter! Kann man gegen diese Schmierfinken vom Wochenblatt nichts unternehmen?«
»Natürlich! Aber wem nützt es etwas? Sie bringen einen Widerruf mit hämischen Seitenhieben. Das Gesetz Nummer sowieso vom Soundsovielten zwingt uns … und so weiter. Und jeder, der es liest, denkt sich: Siehst du, da haben sie wieder die Pressefreiheit mit einem Gesetz abgeschossen! Die Sache in Wildmoor ist doch wahr! Schöne Schweinerei in Deutschland!« Dr. Schmidt schüttelte den Kopf. »Alles vergebens, mein Lieber. Schmutz bleibt haften und gibt Flecke! Die Masse will Vernichtung lesen, nicht Rehabilitierung! Die Masse ist ein Raubtier, das fressen will, immer wieder fressen, unersättlich, eine Hydra mit Millionen Köpfen. Und außerdem –« Dr. Schmidt lächelte traurig – »wartet man ja auf solche Dinge im Ministerium. Fugger ante portas … es geht das Gerücht, daß er Staatssekretär werden will und kann. Da ist der Odem eines Reinigers der Justiz besonders willkommen.«
»Du resignierst also?«
»Ich bin in die Lage des Wartenden gedrängt.«
»Und du hast keinen, der dir helfen kann?«
»Nein.«
»Überleg einmal.«
»Dazu hatte ich die ganze Nacht Zeit.«
»Stehst du denn ganz allein mit deiner Idee?« Dr. Röhrig ging im Zimmer hin und her. »Abgesehen von mir natürlich. Ich bin in den Augen der Juristen ein blutiger, dummer Laie, wenn ich meine Ansichten vor der Ministerialbürokratie äußern wollte. Mit Recht würde man sagen: ›Behandeln Sie bitte Mandelentzündungen und bäuerlich-derbe Gonorrhön, aber lassen Sie die Finger von der Juristerei. Wir sagen Ihnen ja auch nicht, wie Sie Phimose behandeln sollen!‹ Aber irgendein einflußreicher Mann muß doch zu finden sein, der dir ein moralisches Korsett verpaßt!«
»v. Rothen –«, sagte Dr. Schmidt plötzlich.
»Wer?«
»Der Kleiderfabrikant Holger v. Rothen. Seine Tochter Vivian ist Insasse von Wildmoor.«
Dr. Röhrig schüttelte heftig den Kopf. »Ihm wird man sagen: ›Nähe die Knöpfe besser an die Hosen, damit sie nicht beim geringsten Druck abspringen! Aber kümmere dich nicht um den Strafvollzug!‹«
»Du kennst diesen v. Rothen nicht. Aber du hast recht … es ist sinnlos.« Dr. Schmidt stellte sich an das Fenster. Von draußen hörte er helle Mädchenstimmen singen. Die Außenkommandos kamen zurück, am Mittag schon, zurückbeordert ohne Begründung. Die Bauern, die an der Spitze marschierten, rätselten herum, was geschehen sein mochte. Ausgerissen war keines der Mädchen, anständig hatten sich auch alle benommen. Es gab keinen Grund in ihren Augen. Die Mädchen waren völlig ahnungslos; zu ihnen hatte man gesagt, es handle sich um einen außerplanmäßigen Besuch eines hohen Herren. Irgend etwas schien daran wahr zu sein, denn der Innendienst schrubbte die Zimmer und Gänge wie verrückt.
»Meine Mädchen –«, sagte Dr. Schmidt leise.
Dr. Röhrig war hinter ihn getreten. Durch das große Tor marschierten die fröhlichen, singenden Kolonnen. Die Kopftücher wehten, die Gesichter waren braun und gesund, die Freude, zu leben,
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