Mädchen im Moor
glänzte in ihnen. Das Glück, jung zu sein.
»Was wird aus ihnen, wenn sie wieder hinter Gittern und Eisentüren sitzen und jeden Morgen um sieben ihren Abortkübel aus der Zelle schleppen?« Dr. Schmidt wischte sich über die Augen. »Sind diese Mädchen da unten nicht der Beweis, daß ich auf dem richtigen Wege bin, daß es auch anders geht als nach mittelalterlichen Normen, daß man Menschen heranbilden kann, auch wenn sie sich einmal außerhalb der Gesellschaft stellten! Ist denn jeder, der einmal gestrauchelt ist, automatisch ein Aussätziger?! Sind wir ›anderen‹ denn unfehlbar? Man sollte es deutlich, ganz deutlich sagen: Nein! Die ›anderen‹, die Reinen mit der weißen Weste, haben nur Glück gehabt! Ich möchte die heimlichen strafbaren Handlungen nicht zählen, die versammelt sind, wenn sich die sogenannte ›große Gesellschaft‹ trifft!«
Dr. Röhrig lächelte bitter: »Peter –«, sagte er sarkastisch –, »das klingt ketzerisch! Mit solchen Ansichten bist du hier und überall in kürzester Zeit ein toter Mann!«
Sie traten vom Fenster zurück. Die Mädchen waren von Julie Spange und Hedwig Kronberg in Empfang genommen worden, die Bauern trotteten aus dem Hof, – sie hatten keine Auskunft bekommen, warum der Außendienst abrupt beendet wurde. In den Waschräumen ging jetzt das Lachen und Singen los, Kreischen und Gerenne … zwei Häuser voll junger, fröhlicher Mädchen, die nicht wußten, wie schnell sich der Himmel über ihnen verfinsterte und wie nahe die Gefahr war, Wildmoor eintauschen zu müssen mit dumpfen, engen Zellen, in die oben unter der Decke das Licht durch ein kleines vergittertes Fenster fiel und zweimal am Tage eine halbe Stunde lang Luft geschnappt werden durfte, bei einem Spaziergang rund um die Hofmauer und um ein Stückchen blassen Rasens.
Auch Monika Busse und Vivian v. Rothen wurden von Fiedje Heckroth zurückgeholt. Der Moorbauer verlangte vergebens, den Regierungsrat zu sprechen. »Es geht nicht«, sagte Hedwig Kronberg abwehrend. »Der Herr Direktor kann Ihnen auch nichts weiter sagen als ich … Es muß ein Befehl von oben sein!«
»Dann werde ich mich da oben beschweren!« rief Fiedje. Hedwig Kronberg zuckte mit den Schultern.
»Sie wissen doch, daß es keinen Zweck hat.«
Dr. Röhrig schüttete sich das vierte Glas Kognak ein. Seine Erregung verlangte nach dämpfendem Alkohol. »Meinst du wirklich, daß dieser Kleiderfabrikant etwas ausrichten kann?«
»Ich weiß es nicht. Immerhin kennt er einflußreiche Personen –«
»Dann ruf ihn an.« Dr. Röhrig ging wieder hin und her. »Obwohl ich – wie gesagt – nichts davon halte … ganz wehrlos solltest du denen von dem Ministerium nicht entgegentreten.«
Dr. Schmidt nickte. Er sah keine Hoffnung mehr. Plötzlich stand er allein wie auf einer winzigen Insel, und um ihn herum brandeten die Wellen von Unverständnis, Mißverstehen, Hetze und Verleumdung heran, von Neid und Mißgunst, und er hatte keine Möglichkeit, auch nur einen schwachen Damm um sich und sein Werk Wildmoor zu bauen.
Was hatte er denn getan, was in den Augen der Umwelt so verwerflich war? Er hatte gestrauchelte Mädchen als besserungsfähige junge Menschen angesehen, er hatte über kleine, tägliche Fehler hinweggesehen, um das große Ziel der Umerziehung zu erreichen, er war tolerant gewesen und nicht ein ausführendes, anonymes und ebenso gefühlloses Organ des Strafvollzugs. Er verkehrte mit seinen Häftlingen als väterlicher Freund und nicht als Chef der Aufseher. Er kümmerte sich um die Seele seiner Mädchen und nicht nur um die Sauberkeit der Flure und Zimmer. Er gab den von der Menschheit Abgeschlossenen einen täglichen Lebenssinn, anstatt sie zu stumpfen und auf die Entlassung wartenden Geschöpfen werden zu lassen.
War das ein Vergehen gegen Staat und Gesellschaft? War das vernichtenswert? Ist die aufbauende Initiative eines Beamten ein Verrat am Gesetz?
Dr. Schmidt wischte diese Fragen mit einer einzigen Handbewegung weg, so wie er wußte, daß auch Ministerialdirektor Fugger sie wegwischen würde.
»Ich werde v, Rothen anrufen«, sagte er resignierend. »Ich fürchte, er ist gar nicht zu Hause, sondern irgendwo zwischen London und San Franzisco …«
So war es auch. Holger v. Rothen verhandelte in Rom mit italienischen Hemdenfabrikanten. Der Diener versprach Dr. Schmidt, den gnädigen Herrn von dem Anruf zu verständigen. Mehr konnte er nicht tun.
Am Abend, spät nach Dienstschluß des Ministeriums, schellte noch
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