Mädchen im Moor
im Schlamm.
Hilde Marchinski hatte keine Illusionen mehr. Etwas in ihr war zerbrochen, als ihre Mutter schrie, daß Willi zu ihr gewechselt war. Sie wunderte sich selbst darüber, wie nüchtern sie darüber denken konnte, daß es sinnlos sei, dieses Leben weiter mitzumachen. Alles, was für sie bisher zu einer Triebfeder ihres Wesens geworden war … die Sehnsucht nach einem Mann, der Drang nach Freiheit, der blinde Haß auf Vivian, die Verachtung der bürgerlichen Welt … alles war in ihr gestorben. Sie stand in einer schrecklichen Leere, in der sie selbst zu viel war. Sie glaubte, zu erkennen, daß sie gar nicht wert sei, weiterzuleben. Niemand war da, der sie vermißte, niemand, der um sie weinen würde … aber alle warteten darauf, sie wieder zu treten und für ein paar Silberlinge das Recht zu erkaufen, sich über sie zu werfen.
Als die Revierbeamtin, die in einem Zimmer hinter den Krankenräumen schlief, in der Nacht hinausmußte und zur Toilette ging, fand sie das Bett Hilde Marchinskis leer.
»Hilde!« rief sie. »Hilde … mach keinen Blödsinn!«
Sie rüttelte die anderen Mädchen im Krankenzimmer wach. Sie hatten nichts gehört, sie hatten fest geschlafen.
»Hilde!« Der Beamtin lief es eiskalt über den Rücken. »Sie kann doch nicht weg sein! Sie war doch viel zu schwach dazu …«
Nach kurzem Suchen fand man sie.
Sie hing in der Toilette. Um den Spülkasten hatte sie ein in Streifen zerrissenes Handtuch gebunden und sich daran aufgehängt. Sie lebte noch, als die Beamtin das Handtuch herunterriß und drei Mädchen sie zurück in das Zimmer schleiften, aber die Besinnungslosigkeit war schon über sie gekommen, Puls und Herzschlag waren kaum noch spürbar.
Wieder jagte Dr. Röhrig durch die Nacht von Stavenhagen nach Wildmoor. Er bedauerte seinen Freund Dr. Schmidt und hatte gleichzeitig Angst um ihn.
War es eine Idee – seine Idee – wert, daß die Gefahr bestand, an ihr zu zerbrechen?
Der Artikel in der Wochenpost erschien in großer Aufmachung. Die Bilder waren schlecht, man sah nicht viel darauf, aber um so knallender war der Text. In ihm wurde Dr. Schmidt als eine Mischung von Großinquisitor und schwärmerischem Eiferer hingestellt, der Realitäten mit Hirngespinsten verwechselte und eine kleine leitende Position schamlos für Seelenexperimente und Fronarbeit ausnutzte. Die Grundtendenz des Berichtes war klar: Wildmoor ist ein Unding als Strafvollzug. Wie kommt der Steuerzahler dazu, jugendlichen Gangstern einen mehrjährigen Erholungsaufenthalt zu bezahlen, wo Tausende Familien sich nicht einmal einen Sonntagsausflug leisten können?! Daß hier zwei Tendenzen hochgespielt wurden, daß der ganze Artikel sich selbst widersprach … wen kümmerte es. Im Ministerium und bei den vorgesetzten Stellen Dr. Schmidts bei der Staatsanwaltschaft und im Justizministerium schlug er wie eine Bombe ein.
Die alte Weisheit bewahrheitete sich wieder: Beamte sind allergisch gegen die Presse. Ein Beamter, der im Schußfeld der Öffentlichkeit steht, ist ein abgeschossener Beamter, bevor er überhaupt noch Stellung dazu nehmen kann. In vielen Fällen mag es berechtigt sein, dort, wo der Beamte nicht Diener des Staates, sondern Herrscher geworden ist … im Falle Dr. Schmidts war es nicht nur ein Irrtum, ein bewußter, gehässiger Abschuß, sondern auch ein tragisches Schicksal.
Ministerialdirektor Fugger reagierte sofort. Er hatte darauf gewartet, den ›Spinner vom Moor‹ abzuschieben. Untergeordnete Beamte, die durch eigene Ideen Chancen haben, aufzusteigen und eine Gefahr für die Karriere zu werden, sind im Ministerium die unbeliebtesten Zeitgenossen. Ideen haben aus dem Ministerium zu kommen … sie gleichen darin fast zwillingshaft den Universitätskliniken, wo das Privileg der Ideen ausschließlich beim Chef, beim Ordinarius liegt.
Regierungsrat Dr. Schmidt bekam zunächst einen Telefonanruf.
Sperre aller Besuche. Rückpfeifen aller Außenkommandos. Normaler Strafvollzugsdienst in der Anstalt Wildmoor, das heißt vor allem: Einschließung der Häftlinge in die Zimmer. Abwarten weiterer Verfügungen. Eine Kommission zur Untersuchung der beschriebenen Vorfälle wird gebildet. Unter Vorsitz von Ministerialdirektor Dr. Fugger.
»Amen!« sagte Dr. Röhrig. Er goß Dr. Schmidt noch einen Kognak ein. »Du weißt, was das bedeutet?«
»Ja«, sagte Dr. Schmidt kurz. Er war müde, er hatte die Nacht nicht geschlafen. Er hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen und eine lange Rechtfertigung
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