Mädchen im Moor
hören richtig. Vivian befindet sich im ersten Stadium einer hochvirulenten Syphilis –«
Er hörte am anderen Ende der Leitung ein entsetztes Seufzen und legte auf. Vivian v. Rothen zerrte nervös an ihrem Rock. Ihre Augen leuchteten wild. Sie ist ein Vulkan, der jeden Augenblick ausbrechen kann, dachte Dr. Röhrig. Mein Gott, daß wir nie gesehen, nie erkannt haben: Hinter der glatten Maske der Erziehung steht die nackte Unbarmherzigkeit, die Kälte des Gnadenlosen.
»Ich hätte wirklich geglaubt, daß ihr mehr Vertrauen zu mir und Dr. Schmidt hättet –«, sagte er hart.
»Das ist kein Mangel an Vertrauen, Doktor. Das ist etwas anderes. Aber das kann ich Ihnen nicht erklären.« Sie sah sich um. »Ich bleibe gleich hier?«
»Natürlich. Du wohnst ab sofort in Zimmer 3 Is. Ich nehme an, daß du spätestens übermorgen abgeholt wirst.«
Vivian v. Rothen nickte und ging hinaus. Dr. Röhrig zögerte lange, ehe er die Nummer Dr. Schmidts wählte. Er mußte sich dabei hinsetzen, der Schreck machte auch ihn weich.
»Peter –«, sagte er stockend. »Kann ich gleich zu dir hinaufkommen? Ja? Es ist etwas Schreckliches geschehen. Nein, nicht vom Ärztlichen aus … vom Juristischen … Ich kann es dir nicht am Telefon sagen. Ich komme sofort. Und … und stell einen Kognak bereit. Ich muß mir einen Geschmack von Kloake herunterspülen –«
Die Einladung zu einem intimen Herrenabend in die schloßähnliche Villa des Fabrikanten Holger v. Rothen wurde von dem Minister wohlwollend akzeptiert. Der Parteivorstand gab ihm zu verstehen, daß dieser Besuch äußerst wichtig sei, gerade vor den Wahlen. Herr v. Rothen war zwar kein Mitglied der Partei, aber es war über verschiedene Ohren bis zum Fraktionsvorsitzenden vorgedrungen, daß eine gewisse finanzielle Wahlhilfe im Bereiche des Möglichen lag. Vor allem der Einfluß auf die Presse war groß und wertvoll. Man hatte diese Macht schon einmal bei der leidigen Wildmoorsache kennengelernt. Ein Glück, daß Gras in der Politik so schnell und so dicht wächst. Wer sprach heute noch über diese Versuchsanstalt Wildmoor und seinen im jugendlichen Elan schwelgenden Regierungsrat Doktor Schmidt?
Um so mehr war der Minister erstaunt und in seinen Stellungnahmen überfordert, als Holger v. Rothen nach einem vorzüglichen Fasanenessen sich mit den Herren ins Kaminzimmer zurückzog, einen uralten Rothschild servieren ließ, dazu Henry-Clay-Havannas und romantisches Kerzen- und Kaminfeuer-Licht.
»Was sagt man eigentlich über Wildmoor?« fragte v. Rothen und verwirrte den Minister damit maßlos.
»Wildmoor? Wieso?« war die bisher einzige Reaktion, die v. Rothen allerdings mit Recht nicht als Antwort auf seine präzise Frage wertete.
»Sind die Gitter und Zellentüren angebracht?«
»Mein lieber v. Rothen – das sind Angelegenheiten der Bauverwaltung und meines Sachbearbeiters Dr. Fugger.« Der Minister probierte den dunkelroten Rothschild und taxierte ihn auf 1906. Ein Jahrgang, älter als er selbst. »Sie haben eine Faible für Wildmoor?«
»Naturgemäß. Ich bin mit ihm verwandt.«
»Wie bitte?« Der Minister bemühte sich, sein Erstaunen im Rahmen einer Verständnislosigkeit zu halten. »Ich verstehe nicht.«
»Meine Tochter ist Insassin von Wildmoor.«
»Haha! Ein guter Witz!« Der Minister sah lachend auf die glimmende Spitze seiner Henry-Clay. »Was hat die junge Dame denn verbockt?«
»Trunkenheit am Steuer, fahrlässige Tötung und Fahrerflucht. Ein Jahr Jugendstrafe in Wildmoor.«
Der Minister legte seine Havanna in die Kupferschale, die als Ascher diente. Er putzte sich die Nase und hatte somit eine Minute intensiven Denkens gewonnen. Große Männer benötigen solche schöpferischen Pausen. Das ist Ernst, stellte er zunächst fest, und dieser Gedanke lähmte bereits. Er sagt es nicht umsonst, er will etwas damit erreichen. Das war ein kritischer Fall. Er wäre bereit, als Wahlhilfe einen namhaften Betrag, natürlich anonym, zu stiften. Das kompliziert nun wieder alles! Gesetze müssen Gesetze bleiben, und Delikte sind nicht aus der Welt zu schaffen, indem man Menschenfreund und Parteifreund spielt. Da gibt es Grenzen, und die sind sehr eng im juristischen Bereich.
»Ein typisches Wohlstandsvergehen«, sagte der Minister vorsichtig. Er war so höflich, eine Straftat schlicht Vergehen zu nennen, was juristisch ein riesiger Unterschied ist. »Wie lange sitzt ihr Fräulein Tochter schon ein?«
»Sechs Monate –«
»Das ist ja gar kein Problem. Wir werden
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