Mädchen im Moor
einen Bericht aus Wildmoor anfordern. Ist er gut, werden wir auf dem Wege der Bewährung etwas unternehmen können. Sie verstehen – es muß ja alles seine Richtigkeit haben.«
Holger v. Rothen verstand. Die Flasche Rothschild wurde gegen eine neue ausgewechselt. Das Kaminfeuer streute wohlige Wärme in den Raum. Es war höllisch gemütlich. Der Minister lächelte jovial und erwartungsvoll.
»Nach der neuesten Meinungsumfrage liegt unsere Partei an der Spitze«, sagte er. »Allerdings war dieser Test nur bei den gehobeneren Schichten unternommen worden. Etwas Sorge haben wir mit der Industrie. Es ist immer das gleiche in Deutschland: Man kann den Menschen ein gut beschmiertes Butterbrot garantieren, und was wollen sie? Sahnetorte!«
»Eine gute Aphorisme!« lachte v. Rothen und dehnte sich in der Kaminglut. Der Fasan lag schwer im Magen, er war ein wenig trocken gewesen. Ein alter Hahn sicherlich. In der Tiefkühltruhe konnte man das nicht mehr so genau feststellen.
»Man sollte die neutrale Presse etwas mehr für das Regierungsprogramm interessieren«, fuhr v. Rothen fort. Der Minister lächelte breit.
»Die neutrale Presse?! Das ist gut! Das ist sehr gut. Das beweist die Anerkennung der nicht gebundenen Kreise.«
»Genau. Man sollte diesen Plan einmal fester umreißen.«
An diesem Abend wurde vieles umrissen. Wie hoch die Wahlhilfe Holger v. Rothens war, blieb naturgemäß unbekannt. Nur Regierungsdirektor Dr. Fugger erhielt am nächsten Tag den Auftrag, die maßgebenden Stellen für eine vorzeitige Entlassung Vivian v. Rothens aus Wildmoor zu interessieren. Man ließ durchblicken, daß der Minister selbst an dem Fall interessiert sei.
Das Bewährungsverfahren lief an. Auf den Tisch Dr. Schmidts flatterte das Ersuchen, einen Führungsbericht über die Jugendstrafgefangene v. Rothen abzuliefern.
Das Dienstschreiben kreuzte sich mit einer Meldung, die Regierungsrat Schmidt schweren Herzens in der Nacht aufgesetzt und am Morgen zur Post gegeben hatte.
Eine ganz knappe, militärisch kurze und klare Meldung:
»Die Strafgefangene Nr. 45.279, v. Rothen, Vivian, eingeliefert lt. Urteil des Schöffengerichts vom … ist seit gestern flüchtig. Sie hat die Offene Jugendstrafanstalt Gut Wildmoor voraussichtlich in der Nacht mit unbekanntem Ziel verlassen. Die örtlichen Polizeidienststellen sind benachrichtigt –«
Seit dem frühen Morgen war das gesamte Gebiet von Wildmoor durch die Landpolizei abgeriegelt. Streifen beobachteten die wenigen festen Wege, die aus und durch das Sumpfgebiet führten, auf den beiden Provinzialstraßen patrouillierte ein Funkwagen, die Moorbauern suchten ihre Torfabstichgebiete ab und fuhren mit den flachen Moorkähnen über die schmalen, seichten Kanäle. Fiedje Heckroth war entsetzt und sprachlos. Er hatte Vivian v. Rothen als ein braves, arbeitsfreudiges Mädchen kennengelernt, die zusammen mit Monika Busse auf seinem Hof jede Arbeit zur vollsten Zufriedenheit getan hatte. Er fuhr mit seinem klapprigen Wagen sofort nach Gut Wildmoor, um mit Regierungsrat Dr. Schmidt zu sprechen.
Gut Wildmoor glich einer belagerten Festung. Die Tore waren geschlossen, die Mädchen hatten Stubenarrest, nur zwei Abteilungen arbeiteten, der Stalldienst und die Küche. Zwei Polizeimannschaftswagen parkten im großen Innenhof, im Arbeitszimmer Dr. Schmidts hatte sich so etwas wie ein Befehlsstand gebildet. An einer großen Moorkarte wurde immer wieder der mögliche Fluchtweg Vivians nachgezeichnet. Es gab nur wenige Möglichkeiten für ein Mädchen, das von seiner Umgebung nur die Straße zum Moorhof Fiedje Heckroths und die Provinzialstraße kennt.
»Sie muß in Ihrem Gebiet sein, Herr Heckroth!« sagte Dr. Schmidt und zeigte auf ein rot umrandetes Gebiet auf der Karte. »Ihr Gut kennt sie genau. Überlegen Sie mal, wo sie sich da verstecken kann.«
Fiedje Heckroth kratzte sich den Kopf. Er sah von Dr. Schmidt zu den beiden Polizeioffizieren, die mit diensternsten Mienen an der Karte standen und den Eindruck erweckten, eine Kesselschlacht gewinnen zu müssen. Er kam sich unbehaglich vor und hob deshalb auch die Schultern.
»Das ist eine schwere Frage. Es gibt eine Menge Orte, wo man sich verstecken kann.«
»Im Moor?« Der eine Polizeioffizier lächelte mokant. »Mein guter Mann – ein Moor ist doch flach wie ein Tisch.«
Fiedje Heckroth sah wieder Dr. Schmidt an. Mein guter Mann, sagen sie zu mir, dachte er. Als wenn ich ein Halbidiot wäre. Kommen aus der Stadt mit ihren hohen
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